Hmm, ist das im 21. Jahrhundert wirklich noch so? Ich hätte selbst meine Zweifel, ob all dies noch so zutrifft wie es meiner Generation noch selbstverständlich erschien. Doch dann sah ich dieses Video, das der Journalist Michael Praetorius auf Facebook verbreitet hatte:
Wem das Video zu lang ist, hier der Kern der Geschichte: Eine junge Asiatin, gerade in München gelandet und mit der Bahn vom Flughafen auf dem Weg zu der Familie, wo sie als Au-Pair erwartet wurde, hatte zwar eine Fahrkarte gekauft, aber die war mangels Zeitstempel nicht gültig. Ein Fahrkartenkontrolleur nahm diese Freveltat zum Anlass, der jungen Frau die Papiere wegzunehmen und sie bis zur Polizeiwache am Ostbahnhof zu schleppen. Weitere Details spare ich mir hier (dazu gibt es ja das Video), aber diese Begebenheit rief mir ins Gedächtnis, dass man in einigen öffentlichen Nahverkehrssystemen in Deutschland seine Fahrkarte “entwerten” muss – und dass ich, als Zug’roaster aus der Provinz, in München auch erst mal ratlos vor den Vorschriften der U- und S-Bahn stand. Warum, um alles in der Welt, muss ich meine Fahrkarte “entwerten”, damit sie gültig wird? Mir war diese Bedeutung des Wortes “entwerten” bis dahin nicht geläufig – und das trotz fast 20-jährger Erfahrung mit der deutschen Sprache. Schlagen wir doch mal im Duden die Definition von “entwerten” nach:
1. (zur Verhinderung einer nochmaligen Verwertung) ungültig machen
2. a. Den Wert einer Sache, (selten:) einer Person mindern
b. (selten) an Wert verlieren
(Hervorhebung von mir)
Okay, im Lauf der Zeit haben wir Großstadt-Deutschen vermutlich diesen paradoxen Gebrauch des Wortes “entwerten” korrekt zu interpretieren gelernt. Doch für jemanden, der/die aus einer Region ohne nennenswerte öffentliche Verkehrsinfrastruktur kommt und/oder nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist, wäre diese Interpretation nicht zwangsläufig nachvollziehbar. Und ganz nebenbei: Es handelt sich bei dieser Methode des Entwertens auch nicht um eine universale Praxis der Fahrpreistransaktion – es genügt oft schon, sich in einer fremden (wenn auch die gleiche Verkehrssprache benutzenden) Stadt mit einem gänzlich anders organisierten Nahverkehrssystem wiederzufinden; man weiß dann vielleicht, dass man etwas mit der gerade gekauften Fahrkarte anstellen muss – aber nicht notwendigerweise wie.
Doch es geht nicht allein um diese Anekdote (die leider, wie ich aus langjähriger Erfahrung als eingewanderter Münchner, Hamburger und Berliner weiß, nicht sooo ungewöhnlich ist). Es geht um Sprache als Herrschaftsinstrument. Also um Sprache, die nicht dazu verwendet wird, Brücken zwischen Personen zu bauen, sondern um Grenzen zu ziehen, Grenzen zwischen wir (hier oben) und Ihr (da unten). Wird sie das wirklich? Schauen wir doch, wie die Bahn auf diesen Vorfall reagiert hat – wobei ich ihr schon hoch anrechne, dass sie überhaupt reagiert (was zu der Zeit, als die Bahn noch eine Behörde und ihre MitarbeiterInnen Beamte mit Hoheitsbefugnissen waren, sicher nicht passiert wäre):
Bei einer Fahrkartenkontrolle am 25. Mai 2016 gegen 14.30 Uhr in der S-Bahnlinie 8 vom Flughafen zum Ostbahnhof wurde ein ausländischer Fahrgast ohne gültigen Fahrschein angetroffen. Gemäß den Beförderungsbedingungen des Münchner Verkehrsverbunds muss ein Fahrschein vor Fahrtantritt entwertet werden. Dies ist im konkreten Fall nicht geschehen. Wie in solchen Fällen üblich, bat der Fahrkartenkontrolleur um die Papiere des Fahrgastes zur Aufnahme der Personalien, um eine Fahrpreisnacherhebung auszustellen. Vermutlich kam es aufgrund von Verständigungsproblemen dann zu einem Missverständnis zwischen der Reisenden und dem Fahrkartenkontrolleur. Ein anderer Fahrgast zahlte daraufhin vor Ort das erhöhte Beförderungsentgelt.
Wir bedauern es sehr, dass die junge Reisende in eine solch unangenehme Situation geraten ist. Leider kann es bei Fahrscheinkontrollen immer auch zu Missverständnissen kommen, zumal bei Sprachproblemen und wenn Reisende aus dem Ausland die Beförderungsbedingungen noch nicht kennen. Wir schulen daher unsere Mitarbeiter speziell auch mit Blick auf solche Konfliktsituationen, damit sie möglichst immer angemessen handeln. Wenn das im Einzelfall einmal nicht gelingt, bedauern wir das.
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