Das Frühjahrssemester am MIT ist nun vorbei, alle Noten vergeben (irgendwie gefällt mir die Doppeldeutigkeit des Wortes “vergeben” hier – Notengeben ist mit Sicherheit die lästigste aller Aufgaben, die mit meiner Dozentenrolle verbunden sind). Auch die Studentinnen und Studenten hatten eine Gelegenheit, ihre Lehrkräfte zu bewerten (mit einer Skala von 1 bis 7, mit der Sieben als bestmöglicher “Note”), und wenn ich die Zahlen richtig interpretiere, scheinen zumindest die meisten meiner “Opfer” zu denken, dass sie etwas von mir gelernt hätten…
Doch was bringen wir Kommunikations-Dozentinnen und -Dozenten ihnen eigentlich bei? Als ich den Job vor fast sechs Jahren angenommen habe, hätte ich vermutlich geantwortet, “sich verständlich auszudrücken”. Und irgendwie stimmt das auch weiterhin – doch die entscheidende Frage ist: Verständlich für wen? Wir verwenden in unseren Klassen nicht wenig Mühe darauf, den jungen Leuten beizubringen, dass unterschiedliche Zielgruppen unterschiedliche Bedürfnisse haben, wenn man ihnen etwas mitteilen will. Und das trifft nicht nur auf das zu, was man kommuniziert, sondern vor allem auch, wie, oder besser gesagt: in welcher (Fach)Sprache man dies kommuniziert. Der letzte Maßstab für erfolgreiche Kommunikation ist ja nicht, was die Redner/Schreiber sagen oder schreiben wollen, sondern was ihr Publikum zum Verständnis wissen muss.
Und das schließt durchaus den Gebrauch von Fachsprache oder sogar Jargon ein – auch wenn dies scheinbar im Widerspruch zur angestrebten Verständlichkeit steht. Denn nicht wenig von dem, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitteilen können und wollen, ist letztlich nur für eine sehr spezialisierte Teilöffentlichkeit interessant und relevant. Und es ist gilt als Zeichen der Professionalität (im Sinn von “Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Professionellen”), diese zielgruppengerechten Kommunikationsmodalitäten zu kennen und zu benutzen. Nicht ganz zufällig hat sich die Abteilung, in der ich arbeite, das Akronym WRAP – für Writing, Rhetoric, and Professional Communication gegeben. Sprache transportiert nicht nur Inhalte, sie etabliert auch Zugehörigkeit. Nichts offenbar die Nicht-Zugehörigkeit deutlicher als der falsche Gebrauch von Fachausdrücken, oder der Gebrauch falscher Fachausdrücke, oder auch das falsche Verständnis dessen, mit welchen Begriffen das Publikum vertraut ist. (Hat sich jemand darüber geärgert, dass ich den Begriff “Akronym” durch einen Wikipedia-Link erklärt habe – und damit zu unterstellen schien, dass er/sie diesen Begriff nicht kannte?)
Doch die Maßgabe dabei ist immer, dass sie für die angestrebte Zielgruppe verständlich ist. Und das ist etwas anderes als die Idee von Sprache, die ich in der Überschrift angedeutet habe: Sprache als Herrschaftsinstrument, als ein Mittel, Macht über andere (denen sich die vorgeblich vermittelten Inhalte nicht klar, wenn überhaupt erschließen) auszuüben. Das ist durchaus eine Komponente dessen, was ich im Studium als “wissenschaftliche Sprache” kennengelernt hatte – der Zweck war nicht nur, die Zugehörigkeit zum Kreis der Eingeweihten auszudrücken, sondern auch, eine Autorität nach außen zu signalisieren. Wir reden über etwas, das Ihr nicht versteht, nicht verstehen könnt. Die Ermahnungen an Studentinnen und Studenten, die sich versehentlich zu allgemeinverständlich ausgedrückt hatten (vor allem in der Geographie, meinem Studienfach, gibt es ja durchaus Konzepte, die plausibel genug sind, dass sie sich auch einem Nicht-Fachpublikum relativ leicht vermitteln ließen), waren nicht misszuverstehen: “Wissenschaftlich” war nur, was WissenschaftlerInnen ziemlich exklusiv zugänglich war.* Die Autorität der Wissenschaft lag hier nicht in dem, was sie zu sagen hatte, sondern wie sie es sagte.
(* Das war damals, in den frühen 80-er Jahren, als ich noch Student war – vielleicht und vor allem: hoffentlich hat sich das ja seither geändert.)
Wie Sprache als Herrschaftsinstrument funktioniert, sehen wir ja in der Jurisprudenz: Gesetzestexte haben ja nicht – selbst wenn dies wünschenswert wäre – den Zweck, allgemein und eindeutig verständlich zu sein (wenn’s mal vorkommt, dann eher zufällig). Sie sind so abgefasst, dass sie den Rechtsexperten und vor allem natürlich der Gerichtsbarkeit als Organ der Macht eine Deutungshoheit gibt.
Hmm, ist das im 21. Jahrhundert wirklich noch so? Ich hätte selbst meine Zweifel, ob all dies noch so zutrifft wie es meiner Generation noch selbstverständlich erschien. Doch dann sah ich dieses Video, das der Journalist Michael Praetorius auf Facebook verbreitet hatte:
Wem das Video zu lang ist, hier der Kern der Geschichte: Eine junge Asiatin, gerade in München gelandet und mit der Bahn vom Flughafen auf dem Weg zu der Familie, wo sie als Au-Pair erwartet wurde, hatte zwar eine Fahrkarte gekauft, aber die war mangels Zeitstempel nicht gültig. Ein Fahrkartenkontrolleur nahm diese Freveltat zum Anlass, der jungen Frau die Papiere wegzunehmen und sie bis zur Polizeiwache am Ostbahnhof zu schleppen. Weitere Details spare ich mir hier (dazu gibt es ja das Video), aber diese Begebenheit rief mir ins Gedächtnis, dass man in einigen öffentlichen Nahverkehrssystemen in Deutschland seine Fahrkarte “entwerten” muss – und dass ich, als Zug’roaster aus der Provinz, in München auch erst mal ratlos vor den Vorschriften der U- und S-Bahn stand. Warum, um alles in der Welt, muss ich meine Fahrkarte “entwerten”, damit sie gültig wird? Mir war diese Bedeutung des Wortes “entwerten” bis dahin nicht geläufig – und das trotz fast 20-jährger Erfahrung mit der deutschen Sprache. Schlagen wir doch mal im Duden die Definition von “entwerten” nach:
1. (zur Verhinderung einer nochmaligen Verwertung) ungültig machen
2. a. Den Wert einer Sache, (selten:) einer Person mindern
b. (selten) an Wert verlieren
(Hervorhebung von mir)
Okay, im Lauf der Zeit haben wir Großstadt-Deutschen vermutlich diesen paradoxen Gebrauch des Wortes “entwerten” korrekt zu interpretieren gelernt. Doch für jemanden, der/die aus einer Region ohne nennenswerte öffentliche Verkehrsinfrastruktur kommt und/oder nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist, wäre diese Interpretation nicht zwangsläufig nachvollziehbar. Und ganz nebenbei: Es handelt sich bei dieser Methode des Entwertens auch nicht um eine universale Praxis der Fahrpreistransaktion – es genügt oft schon, sich in einer fremden (wenn auch die gleiche Verkehrssprache benutzenden) Stadt mit einem gänzlich anders organisierten Nahverkehrssystem wiederzufinden; man weiß dann vielleicht, dass man etwas mit der gerade gekauften Fahrkarte anstellen muss – aber nicht notwendigerweise wie.
Doch es geht nicht allein um diese Anekdote (die leider, wie ich aus langjähriger Erfahrung als eingewanderter Münchner, Hamburger und Berliner weiß, nicht sooo ungewöhnlich ist). Es geht um Sprache als Herrschaftsinstrument. Also um Sprache, die nicht dazu verwendet wird, Brücken zwischen Personen zu bauen, sondern um Grenzen zu ziehen, Grenzen zwischen wir (hier oben) und Ihr (da unten). Wird sie das wirklich? Schauen wir doch, wie die Bahn auf diesen Vorfall reagiert hat – wobei ich ihr schon hoch anrechne, dass sie überhaupt reagiert (was zu der Zeit, als die Bahn noch eine Behörde und ihre MitarbeiterInnen Beamte mit Hoheitsbefugnissen waren, sicher nicht passiert wäre):
Bei einer Fahrkartenkontrolle am 25. Mai 2016 gegen 14.30 Uhr in der S-Bahnlinie 8 vom Flughafen zum Ostbahnhof wurde ein ausländischer Fahrgast ohne gültigen Fahrschein angetroffen. Gemäß den Beförderungsbedingungen des Münchner Verkehrsverbunds muss ein Fahrschein vor Fahrtantritt entwertet werden. Dies ist im konkreten Fall nicht geschehen. Wie in solchen Fällen üblich, bat der Fahrkartenkontrolleur um die Papiere des Fahrgastes zur Aufnahme der Personalien, um eine Fahrpreisnacherhebung auszustellen. Vermutlich kam es aufgrund von Verständigungsproblemen dann zu einem Missverständnis zwischen der Reisenden und dem Fahrkartenkontrolleur. Ein anderer Fahrgast zahlte daraufhin vor Ort das erhöhte Beförderungsentgelt.
Wir bedauern es sehr, dass die junge Reisende in eine solch unangenehme Situation geraten ist. Leider kann es bei Fahrscheinkontrollen immer auch zu Missverständnissen kommen, zumal bei Sprachproblemen und wenn Reisende aus dem Ausland die Beförderungsbedingungen noch nicht kennen. Wir schulen daher unsere Mitarbeiter speziell auch mit Blick auf solche Konfliktsituationen, damit sie möglichst immer angemessen handeln. Wenn das im Einzelfall einmal nicht gelingt, bedauern wir das.
Wir bieten der Reisenden an, uns persönlich bei ihr zu entschuldigen und möchten dem Fahrgast, der ihr zu Hilfe kam, auch eine Kulanzregelung anbieten. Die S-Bahn München nimmt den Fall sehr ernst und wird mit dem betroffenen Mitarbeiter den Vorfall aufarbeiten. Im Interesse aller zahlenden Fahrgäste sind Fahrscheinkontrollen notwendig.
Ich weiß nicht, wie es anderen ergeht, aber ich kriege bei Wortmonstern wie “Fahrpreisnacherhebung”, “erhöhtes Beförderungsentgelt”, “Kulanzregelung”, vor allem aber bei der Gesamtkonstruktion der Sätze und verzerrten Argumentation (“Vermutlich kam es aufgrund von Verständigungsproblemen dann zu einem Missverständnis zwischen der Reisenden und dem Fahrkartenkontrolleur. Ein anderer Fahrgast zahlte daraufhin vor Ort das erhöhte Beförderungsentgelt”) hier einen dicken Hals. Das ist Behördensprache, die nur vorgibt, mit den Betroffenen zu reden. Oder, wie ich meinen Studentinnen und Studenten zu erklären versuche: Die Verantwortung dafür, verständlich zu kommunzieren, liegt zuallererst bei den Sprechenden/Schreibenden (wie ich hier schon mal ausgeführt hatte). Verständlichkeit geht nun mal nicht ohne Verständnis für die (Informations-)Bedürfnisse der Zielgruppe.
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