Wenn es um sexuelle Gewalt, speziell an US-Hochschulen geht, halte ich mich ja eigentlich nicht zurück. Trotzdem fällt es mir erst mal nicht leicht, meine Gedanken zu dem Fall in Stanford – der streng genommen wohl nicht an der Hochschule passierte, aber dennoch in deren engerem Umfeld – aufzuschreiben (wer nicht weiß worum geht, kann mit diesem Link alles Wesentliche nachlesen). Weil ich einfach nicht weiß, was ich an der kompletten Geschichte ekelhafter finden soll: das Verhalten des Studenten selbst; die Tatsache, dass sich vermutlich niemand um den Fall geschert hätte, wenn nicht die junge Frau, die als das Opfer zu bezeichnen ist (eine Rolle, mit der sie sich selbst nicht abfinden will), ihre eloquente, intelligente und extrem aufwühlende Botschaft an ihren Vergewaltiger, die sie im Gerichtssaal vorgetragen hatte, veröffentlicht hätte; das Verhalten des Richters, der das milde Urteil verhängte; das Verhalten der Anwälte, die trotz klarer Täterschaft ihres Mandanten versuchten, die Verantwortung auf die (zum Tatzeitpunkt bewusstlose) junge Frau abzuwälzen; das Verhalten des Vaters, der offenbar gar nicht kapiert, was sein Sohn getan hat und ihn stattdessen für ein Opfer des Geschehens hält; und natürlich das Verhalten des Täters selbst, der zwar die Tat bedauert – aber nur, weil sie sein Leben ruiniert habe, nicht aus irgend einer Einsicht dessen heraus, was er einem anderen Menschen damit zugefügt hat. Aber auch das Verhalten vieler KritikerInnen des Urteils und des Richters, die letztlich nichts anderes sehen wollten als eine drastisch längere Gefängnisstrafe – als ob dies irgend etwas nachhaltig an dem Problem der Vergewaltigungskultur ändern würde.
Fangen wir mit letzterem an, das ist am schnellsten erklärt: Der Schrei nach härteren Strafen ist nichts anderes als ein Schrei nach Rache – und, rein emotional betrachtet, nicht weit weg von dem Gefühl, das vor einiger Zeit in den USA den Lynchmob umtrieb (und in einigen weiter entfernten Weltregionen noch heute umtreibt). Wie genau würde eine längere Haftstrafe dem Opfer beispielsweise helfen? Oder wie würde es die Gesellschaft verbessern, wenn ein 20-Jähriger statt sechs Monaten sechs oder vielleicht sogar 16 Jahre ins Gefängnis gesteckt wird – wo er erst recht lernen wird, dass sexuelle Gewalt ein praktikables Mittel ist, sich durchzusetzen? Zum Strafmaß gleich noch ein paar Gedanken, aber so viel lässt sich jetzt schon sagen: Wenn ein 20-Jähriger nach einem Schuldspruch (der ja der Verkündung des Strafmaßes vorausging) noch nicht einsehen kann, was er eigentlich verbrochen hat, wird er es auch nicht kapieren, wenn er statt sechs Monate sechs Jahre dafür absitzen muss.
Und hier kommt die Verantwortung der Eltern und der Gesellschaft zum Tragen. Wenn mein Sohn wegen einer solchen Tat verurteilt würde (und, wie in diesem Fall die Schuld außer Frage steht), stünde auch meine Mitschuld für mich außer Frage. Ich habe mal versucht, dies in Gedanken durchzuspielen, und ich bin mir sogar sicher, dass ich den Richter bitten würde, mich ebenfalls – mit meinem Sohn, wie ich aus väterlicher Sorge hoffen und bitten würde – ins Gefängnis zu schicken. Das meine ich absolut ernst! Nicht nur, weil ich wüsste, dass mein Sohn meinen Beistand braucht (als Vater kann ich da gar nicht anders denken), aber vor allem auch um ihm zu zeigen, dass Verantwortung nicht erst dann beginnt, wenn man erwischt wird. Womit ich nicht sage, dass Väter/Eltern generell für die Taten ihrer Kinder die Schuld tragen – aber dieser Vater tut es ganz bestimmt. Denn dass er das schlechte Vorbild für den Sohn war, steht für mich außer Zweifel. Deutlicher als mit dem Unverständnis dafür, dass sein Sohn für nur “20 Minuten Action” bestraft werde, hätte er es gar nicht ausdrücken können. Denn er meint damit nicht, dass die Tat seines Sohns eine kurze, unüberlegte Handlung – einen Moment der Unachtsamkeit, wenn man so will – war. “Action” ist nämlich nicht nur ein neutraler Begriff, der sich mit “Aktivität” oder “Handlung” übersetzen ließe; wenn jemand die Erwartung “to get some action” hegt, dann rechnet er (aus meiner subjektiven Beobachtung heraus sind es fast immer Männer, die diesen Ausdruck benutzen) mit sexueller Gratifikation. Und nein, dabei geht es nicht um Zuneigung, Intimität und sexuelle Zärtlichkeit – sondern um die rein körperliche Gratifikation. Was der Vater also letztlich sagen wollte war: Hey, mein Sohn hatte gerade mal 20 Minuten seinen Spaß – der Preis dafür ist zu hoch.
Und spätestens hier hätte der Richter sein amtsbefugtes Machtwort sprechen müssen: Nicht das milde Strafmaß ist es, was an seinem Spruch empörend ist, sondern die Tatsache, dass er damit letztlich der Lesart des Vaters zustimmt.
Wie ich oben schon sagte: Das Strafmaß an sich setzt schon ein falsches Signal. Denn es ist in vielerlei Hinsicht unangemessen in einem Rechtssystem, das keine Probleme damit hat, junge Menschen für Ladendiebstahl lebenslänglich hinter Gitter zu stecken. Oder je nach Hautfarbe für das gleiche Delikt drastisch verschiedene Strafen verhängt. Das sexuelle Handlungen aus reinem Vergnügen, zum Beispiel von Kindern oder unter – ansonsten einverständlich handelnden – Jugendlichen strenger ahndet als wenn sich junge (angehende?) Sportstars mit Gewalt nehmen, worauf sie einen natürlichen Anspruch zu haben glauben. Auch wenn es zynisch klingen mag, spielt meiner Ansicht dabei die purtitanische Lustfeindlicheit (Puritaner seien Leute, so sagt man, die nichts mehr fürchten als dass irgendwer irgendwo Spaß haben könnte) eine große Rolle – Sex, wenn er Spaß macht, ist schon automatisch verwerflich. Aber Sex zur Bestätigung des eigenen sozialen Status, der eigenen Überlegenheit, der scheint da schon akzeptabler. Wir alle kennen den Begriff der “sexuellen Eroberung” (“sexual conquests” sagt man im Englischen, und es meint genau das Gleiche) – aber wie viele sind sich bewusst, dass damit nicht nur eine Bewunderung für den Eroberer, sondern auch eine implizierte Toleranz für das Überwinden von Widerstand (= Gewalt) ausgedrückt wird?
Das Problem der Vergewaltigungskultur lässt sich nicht mit längeren Gefängnisstrafen lösen – allein schon, weil sowieso nur ein ganz geringer Teil der Vergewaltiger verurteilt wird. Das Problem ist nicht, welchen Preis man von den Tätern fordert, sondern dass man sie gar nicht erst zu Tätern werden lässt. Hier liegt die Verantwortung – und beim Versagen: die Schuld – der Väter.
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