Wenn man Gewohnheitsrechte hier berücksichtigt, dann muss die Antwort in jedem Fall “ja” lauten: Als Kehrseite des Wissens ist sie vermutlich so alt wie unsere Menschlichkeit selbst; wir finden sie in der Aeneis (II, 49 – wenn die Trojaner die offensichtlich gut begründete Warnung des Laokoon vor dem Geschenk der Griechen in den Wind schlagen, mit fatalen Konsequenzen); sie ist, wie Schiller den englischen Feldherrn Talbot noch im Sterben sagen lässt, eine Kraft, gegen die selbst die Götter vergebens kämpfen (Die Jungfrau von Orleans, 3. Aufzug, 6. Auftritt). Sie hat in der deutschen Geschichte zu wiederholten Katastrophen geführt und wurde danach als Generalentschuldigung bemüht. Und wer hätte vergessen, wie George W. Bush, als US-Präsident sich im Interview mit der Fernsehjournalistin Diane Sawyer des gezielten Nichtbeachten von allgemein verfügbaren Nachrichten rühmte:
Diane Sawyer First of all, I just want to ask about reading. Mr. President, you know that there was a great deal of reporting about the fact that you said, first of all, that you let Condoleezza Rice and Andrew Card give you a flavor of what’s in the news.
President Bush: Yes.
Diane Sawyer: That you don’t read the stories yourself.
President Bush: Yes. I get my news from people who don’t editorialize.
Hier muss ich vielleicht anmerken, dass ich in meiner Überschrift ursprünglich von “Dummheit” geschrieben habe. Doch Dummheit ist – abgesehen davon, dass sie nicht immer nur eine Personeneigenschaft ist (“das war eine Dummheit”, sagt man ja auch, ohne sie jemandem direkt zuzuschreiben) – eigentlich eher als die Unfähigkeit zu verstehen, Information zu verarbeiten. Ignoranz hingegen ist die bewusste Entscheidung, Information nicht zur Kenntnis zu nehmen. Und die ist, wie man sieht, derzeit hoch im Kurs: Sie florierte, als britische Wählerinnen und Wähler, wie mein ScienceBlog-Kollege Joseph Kuhn hier schon geschrieben hat, im Vorlauf zum Brexit-Referendum lange Zeit belügen ließen und (we ich hier hinzu fügen möchte) offenbar erst nach ihrer Abstimmung mit der Recherche begannen, was diese Entscheidung eigentlich bedeutet, und sie treibt stândig neue Blüten, wenn US-Wahlberechtgte in großer Zahl Donald Trump zulaufen und -jubeln, obwohl es leicht nachzulesen ist, dass er schon fast pathologisch unfähig ist, ein wahres Statement abzugeben und dazu neigt, seine eigenen Behauptungen zu leugnen.
Doch in der Überschrift frage ich ja nicht einfach, ob Ignoranz eine Tatsache ist – sondern ob es so etwas wie ein Recht auf Ignoranz gibt – also ein Recht, Tatsachen, Fakten, Informationen allgemein nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Just jenes schien ja der britische Justizminister Michael Gove zu postulieren, als er erklärte, das britische Volk habe die Nase voll von Experten. Falls jemand jetzt dagegen halten will, dass Gove doch nur “Experten” gemeint habe, also Leute, die so tun, als ob sie etwas wüssten, obwohl sie falsch liegen – nein, offenbar nicht. Denn er konnte keine Experten (diesmal ohne Anführungszeichen, also Personen, die seiner Meinung nach richtig liegen) benennen. Damit war sein Argument pauschal gegen alle gerichtet, die sich als Fachleute geäußert hatten – weil sie halt nicht seine Position unterstützen wollten.
Ich gestehe gerne, dass ich manchmal auch von einer abgelegenen Insel träume, auf der ich von keinerlei Nachrichten bedrängt werde (aktuell ist es wirklich kein Vergnügen, das Zeitgeschehen zu verfolgen, egal wo) und wo ich mir meine Villa und meine Welt nach eigenem Gefallen kunterbunt ausmalen kann. Sich informieren ist zeitaufwändig, manchmal richtig anstrengend (vor allem, wenn es um Fachinformationen geht) und führt dann trotzdem noch nicht mal zu einem einigermaßen stabilen Zustand: Was wir heute “wussten”, kann morgen schon (wieder?) falsch oder zumindest überholt sein. Selbst – und manchmal sogar ganz besonders – in der Wissenschaft. Und da ist es sogar fast schon begreiflich, wenn man sich lieber auf “alte Weisheiten” verlassen will und somit Tradition und Evidenz durcheinander bringt.
In der Wissenschaft ist die Antwort auf die Titel-Frage ja ziemlich einfach: Nein. Ignoranz ist dort kein nachhaltiges Modell; neue Erkenntnisse ersetzen das bisher “Gewusste”, ob es diesem – und seinen Wissensträgerinnen und -trägern – nun passt oder nicht. Dauert manchmal ein bisschen, ist am Ende aber unvermeidlich.
Der Haken ist nur: Das “richtige Leben”, also das Leben außerhalb der akademischen Welt, folgt meist anderen Regeln des Wissens – ob uns das passt oder nicht. Die aus genetischer Sicht unhaltbare Idee, dass sich Menschen in Rassen sortieren lassen, ist beispielsweise in der US-Gesellschaft so tief verankert, dass sie aus dem Alltagsleben nicht mehr zu entfernen ist. Selbst an einer dem Wissen sicher aufgeschlossenen Universität wie dem Massachusetts Institute of Technology, wo ich arbeite, wird der Begriff “Race”, also Rasse – sicher wider besseres biologisches Wissen – ganz alltäglich verwendet.
Und wenn Donald Trump den Wählern (sind ja eh’ hauptsächlich ältere, weiße Männer, also pfeif’ ich jetzt mal auf die gender-inklusive Schreibweise) eine Rückkehr zu jener Zeit verspricht, in denen Amerika seiner Ansicht nach großartiger war als jetzt, dann verspricht er ihnen doch nur eine Zeit, in der nichts ihr Selbstbewusstsein eindämmen kann – schon gar nicht beispielsweise das so unbequeme Wissen über die eigenen historischen Fehler, die Mängel des amerikanischen Wirtschaftssystems (mit seiner extremen Ungleichheit) oder darüber, dass die beinahe als heilige Schrift verehrte US-Verfassung eben doch nicht mehr in allen Belangen zeitgemäß ist. Kurz: Er verspricht ihnen eine Gesellschaft, in der sie ignorant sein dürfen und trotzdem im Recht sind. Und wie einfach das geht, führt er ihnen ja in jeder seiner “Reden” (die Anführungszeichen sind hier unerlässlich) anschaulich vor.
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