Wen interessiert’s, ob die Bälle in einer Art Halbfinalspiel der US-Footballwelt vor eineinhalb Jahren ein bisschen zu platt waren oder nicht? In Deutschland vielleicht kaum jemanden Aber hier in den USA – vor allem im Großraum Boston, wo die vermeintlich luftablassenden New England Patriots zu Hause sind – ist diese Affäre um ein bisschen zu wenig Luft (und deren respektive Temperatur) auch heute noch vermutlich für zigtausende von erhöhten Blutdruckmesswerten verantwortlich. Ich selbst finde das Thema ja weniger aus sportlicher als aus wissenschaftlich-technischer Sicht interessant; außerdem hilft es mir, mich vom sonst eher deprimierenden Tagesgeschehen abzulenken. Dankenswerter Weise hat die New York Times mir dafür eine wunderbare Vorlage geliefert: The Deflategate Scientists Unlock Their Lab.
Der Artikel ist eine Reportage über die Gutachterfirma Exponent, die von der Football-Liga NFL mit der Begutachtung der Messungen beauftragt wurde, die von Schiedsrichtern der Halbzeitpause des fraglichen Spieltags der New England gegen die Indianapolis Colts durchgeführt wurden und in denen ein nicht ausreichender Druck in den Spielbällen der Patriots festgestellt wurde. Worum es damals ging, habe ich in einem (oben schon verlinkten) Posting mal versucht zu erklären; wer mehr darüber wissen will, was seither auf dem Spiel stand, ob de Patriots ohne solche Manipulationen das Spiel auch gewonnen hätten, und warum es überhaupt für eine Mannschaft von Vorteil sein kann, mit etwas platteren Bällen zu spielen, kann hier mit Gewinn weiterlesen. Kurzer Hinweis für alle, die mit Football nicht vertraut sind: Es gibt auf jeder Seite praktisch zwei Mannschaften, das Offense-Team und das Defense-Team – je nachdem, welche Seite gerade am Spielzug ist, werden die entsprechenden Unter-Mannschaften ins Feld geschickt. Und jedes Angriffsteam (Offense) darf dabei immer einen seiner Bälle zum Spielball erklären. Und bestimmte Angriffs-Spielzüge funktionieren besser mit einem etwas platteren Ball, da der sich leichter Fangen und halten lässt.
Ich bin in der ganzen Sache nicht mehr ganz unparteiisch – nicht etwa, weil ich in Cambridge bei Boston lebe (im Herzen bleibe ich immer ein New Yorker), und schon gar nicht, weil ich mich plötzlich für Football interessiere. Aber ich hatte das Vergnügen – und ja, ich habe es in der Tat sehr genossen – einen Vortrag zu diesem Thema im Rahmen einer Klasse zu hören, in der angehende MIT-Ingenieurinnen und -Ingenieure lernen, mit Messinstrumenten sinnvoll umzugehen; ich selbst bin einer der Kommunikationslehrer für diese Klasse und habe in dieser Rolle auch immer wieder mal mit Professor John Leonard zu tun, der diesen Vortrag ausgearbeitet hat und der dankenswerter Weise auch online zu sehen ist:
Ich will auch ergänzen, dass Leonard nicht von irgend einer Seite als Gutachter beauftragt war, sondern – soweit ich das verstanden habe – diesen Vortrag zu Lehrzwecken konzipiert hat. Es gab allerdings Gutachten, die zum gleichen Schluss wie Leonard kamen; nicht nur das Gutachten, das die Patriots selbst in Auftrag gegeben hatten (was nicht weiter überraschen dürfte), sondern auch eine Stellungnahme des American Enterprise Institute kam zu dem gleichen Schluss, dass es für den mangelnden Druck in den Patriots-Bällen phsyikalisch plausible Erklärungen gibt und eine Absicht oder gar ein Betrug damit nicht belegbar sei. Der Haken ist, dass dieses Paper von Wirtschaftsexperten geschrieben wurde – was sie nicht automatisch disqualifiziert, aber auch nicht so ganz die hier vorhandenen Erwartungen an ihre Fachkompetenz erfüllt…
Doch die Liga vertraute einem anderen Gutachten, das von der Firma Exponent in Menlo Park (Kalifornien) erarbeitet wurde – und dies ist auch die Firma, die der New York Times ihre Türen für die oben erwähnte Reportage geöffnet hat. Der Report, der von der New Yorker Anwaltskanzlei Paul, Weiss, Rifkin, Wharton & Garrison in Aufrag gegeben wurde (die ihrerseits von der National Football League zur Wahrung ihrer Interessen angeheuert wurde) und seither als Wells-Report (nach dem federführenden Anwalt Theodore Wells) bekannt ist, kam zum Schluss, dass es keine Anzeichen dafür gäbe, dass für die Luftdruck-Differenzen allein durch natürliche Umstände zustande hätten kommen können, was betrügerische Manipulationen seitens der Patriots implizierte. Diese Gutachten war maßgeblich für die Millionen-Dollar-Geldstrafe und eine befristste Sperre für den Patriots-Quarterback Tom Brady, der nach vergeblichem Anrufen des Obersten US-Gerichtshofs nun für vier Spiele auf der Reservebank sitzen muss.
Das alles ist sicher sehr spannend, und Sportfans können sich hier sicher von Herzen echauffieren. Doch an meinem Bewusstsein nagt etwas ganz anderes: Sind bezahlte Gutachter, wie etwa die Exponent-Mitarbeiter, wirklich Wissenschaftler, wie die New York Times in ihrer Schlagzeile schreibt? Sind sie “Forscher” im wahren Sinn des Wortes, die sich für nichts anderes als die Wahrheit – oder zumindest die beste Annäherung an selbige, die sie mit den verfügbaren Mitteln erreichen können – interessieren? Ist der Bericht, den Exponent vorgelegt hat, wissenschaftlich?
Er wurde sicherlich von wissenschaftlich qualifizierten Personen erarbeitet, deren Fachkenntis und Sorgfalt ich nicht beurteilen kann, aber jedenfalls auch nicht bezweifeln möchte. Und diese Personen haben wissenschaftlich adäquate Mittel und Methoden verwendet (soweit ich das aus dem NYTimes-Artikel ersehen kann). Doch das alles genügt immer noch nicht. Denn der Bericht selbst wurde nicht von den Exponent-Leuten zusammengestellt, sondern von der Anwaltskanzlei; er wurde auch nicht von anderen Wissenschaftlern in einer Peer-Review begutachtet, sondern von einem einzelnen Princeton-Physiker und den Exponent-Mitarbeitern gegengelesen. Und er ist, wie gesagt, keine wissenschaftlich unabhängige Arbeit, sondern ein Gutachten, das im Auftrag einer interessierten Partei erstellt wurde.
Kommentare (17)