Bevorzugt das geltende US-Wahlrecht Clinton oder Obama? Bei den US-Wahlen bekommt der Sieger eines Bundeslandes alle Wahlmänner-Stimmen dieses Landes, was es scheinbar attraktiver macht, einige große statt vieler kleiner Staaten zu gewinnen. Ob dies tatsächlich so ist, erörtern wir in diesem Beitrag.
Gestern haben wir erklärt, worum es bei der Berechnung der ‘individual voting power’
(zu deutsch: des ‘Machtindexes’) geht. Heute wollen wir die Wahrscheinlichkeits-Theorie dazu
etwas detaillierter beschreiben.
Ich benutze für diesen Beitrag den Artikel ‘Standard voting power indices don’t
work: an empirical analysis’ von Gelman, Katz und Bafumi. Auf diesen Artikel bin ich durch
einen Diskussionsbeitrag von Robert Offinger auf O.Teschke’s Satireblog
rank zero aufmerksam geworden.
Zunächst benötigen wir eine mathematische Modellierung. Wir haben
zwei Parteien A und B, die zur Wahl stehen (etwa Republikaner und
Demokraten, oder Obama und Clinton). Wir numerieren die einzelnen
Staaten mit j=1,2,…,J. Zum Beispiel im Fall der US-Wahlen ist J=50, und bei alphabetischer Numerierung entspricht j=1 Alabama und j=50 entspricht Wyoming.
Der Staat j habe n(j) Wähler und e(j) Stimmen in der Wahl-Versammlung. Im Beispiel ist für Alabama n(1) ca. 4,6 Millionen und e(1)=9,
für Wyoming ist n(50) ca. 500000 und e(50)=3.
Die Nichtproportionalität rührt in diesem Fall wohl daher, daß auch sehr kleine Staaten mindestens drei Wahlmänner haben müssen. (Die Zahl der Wahlmänner ist die von der eigentlichen Wahl. Bei den Vorwahlen gibt es mehr Wahlmänner, die Verhältnisse sind aber ähnlich.)
Zur Erinnerung: der allgemein anerkannte Maßstab, wann eine Wahl als gerecht
anzusehen ist, ist daß jeder Wähler die selbe ‘individual voting
power’, also denselben Einfluß auf den Wahlsieg einer Partei,
haben soll.
Wir wollen also die ‘individual voting power’ eines Wählers XY berechnen, d.h. die
Wahrscheinlichkeit, daß die Stimme
von XY für die Wahl entscheidend ist.
Wir nehmen im Weiteren an, daß XY die Partei A gewählt hat. (Falls er Partei B gewählt hat,
gelten die Ergebnisse natürlich entsprechend.) Außerdem nehmen wir an, daß XY im Land j lebt.
Damit das Votum von Wähler XY die Wahl entscheidet, müssen zwei Dinge
eintreffen: das Votum des Wählers muß die Wahl in seinem Bundesland
entscheiden, und das Ergebnis des Bundeslandes muß die Gesamt-Wahl
entscheiden. Weil dies unabhängige Ereignisse sind, multiplizieren sich die Wahrscheinlichkeiten, es ist also
individual voting power=W(Stimme von XY entscheidet Wahl im Land j) x W(Stimmen von Land j entscheiden die gesamte Wahl)
Mit W(…) bezeichnen wir hier immer die Wahrscheinlichkeit des in Klammern stehenden Ereignisses.
Die Anzahl der Stimmen für Land j in der Wahlversammlung hatten wir mit e(j) bezeichnet.
Weiter bezeichnen wir mit E die Gesamtzahl der Wahlmänner und mit E_A bzw. E_B die Zahl der Wahlmänner,
die für A bzw. B stimmen werden.
Damit die Stimmen von Land j die Gesamt-Wahl (für die Partei A) entscheiden, muss gelten, daß
0.5 E < E_A < 0.5 E + e(j)
ist. (Wenn E_A < 0.5 E ist, verliert Partei A die Wahl auch mit den Stimmen von Land j. Wenn E_A > 0.5 E + e(j) ist, wären die Stimmen von
Land j gar nicht mehr notwendig gewesen zum Wahlsieg.)
Also ist
W(Stimmen von Land j entscheiden die gesamte Wahl)=
W(0.5 E < E_A < 0.5 E + e(j))
und diese Wahrscheinlichkeit ist natürlich proportional zur Länge des
Intervalls (0.5 E, 0.5 E+e(j)), also zu e(j).
Weniger offensichtlich ist die Berechnung von
W(Stimme von XY entscheidet Wahl im Land j).
In der Regel wurde angenommen, daß die Verteilung (der Stimmenanteile für eine von zwei gleichstarken Parteien)
eine Normalverteilung mit Mittelwert 0.5 und Standardabweichung 0.5/Wurzel(n(j)) ist, wobei ja n(j)
die Anzahl der Wähler im Land j bezeichnete. Unter dieser Annahme ist es dann ein bekanntes Resultat
der Wahrscheinlichkeitstheorie, daß
W(Stimme von XY entscheidet Wahl im Land j)=Wurzel(2/pi) 1/Wurzel(n(j))
ist. Hieraus würde sich ergeben, daß die individual voting power proportional zu e(j)/Wurzel(n(j)) ist, woraus
sich ergibt, daß man, wie von Kaczynski vertreten, die Anzahl der Wahlmänner e(j) proportional zu Wurzel(n(j)) wählen sollte,
damit alle einzelnen Wähler die selbe individual voting power haben.
Im Artikel von Gelman, Katz und Batumi wird nun aber anhand empirischer Daten aus den US-Wahlen seit 1950 gezeigt,
daß die Annahme einer Normalverteilung für die Wahlergebnisse nicht zutrifft. Die Standardabweichung der
Wahlergebnisse nimmt nicht (wie es bei Normalverteilung der Fall sein müßte) ab, wenn ein Land viele Einwohner hat.
Ergebnis ihrer empirischen Untersuchungen ist, daß man für einen konstanten Wert der individual voting power
nicht e(j) proportional zur Quadratwurzel (d.h. der 0,5-ten Potenz) von n(j), sondern e(j) in etwa proportional zur
0,9-ten Potenz von n(j) wählen muß.
Um die Diskussion für Nicht-Mathematiker noch einmal zusammenzufassen: die Ergebnisse hängen wesentlich davon ab, welche Annahmen man für die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wählerstimmen zugrunde legt. Geht man, wie unter Mathematikern
üblich, von Normalverteilung aus, dann hat Kaczynski Recht. Legt man für die Wahrscheinlichkeitsverteilung
reale Daten zugrunde (nämlich die Ergebnisse der US-Wahlen der letzten 58 Jahre), dann sollte die Anzahl der Wahlmänner eines Landes proportional zur 0,9-ten Potenz der Anzahl der Wähler sein..
Die Autoren der Studie sind sich freilich selbst im Klaren, daß eine Wichtung
der Bevölkerungszahlen mit Potenz 0,9 der Öffentlichkeit nur schwer zu
erklären wäre. Ich zitiere aus dem Artikel:
‘We hesitate to make a recommendation of the 0.9-power rule
since it lacks the Platonic appeal of the proportional and square-root rules.
The proportional rule is closer to the 0.9 power and is simpler to explain.
However if probabilistic arguments were to be used […] then it might be
reasonable to use the 0.9 power to estimate the power of individual voters.’
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