In Captcha I hatten wir über den restriktiven Zugang zu einem kroatischen Zufallszahlengenerator berichtet. Noch strenger sind die Verfasser eines Artikels über erste Hilfe bei Kopfschmerzen. Sie verlangen, daß man die Riemann’sche Vermutung löst.
Dieses offensichtlich nicht ernstgemeinte Captcha schützt “Chronic Pain: A Primary Care Guide to Practical Management [978-1588295019].pdf” vor unbefugten Zugriffen. (Der Artikel kann übrigens auch für 54 $ beim Kopfschmerzen-Journal Headache: The Journal of Head and Face Pain heruntergeladen werden.)
Vielleicht ein passender Anlaß, einmal kurz über die Riemann-Vermutung zu schreiben. (Ein anderer aktueller Anlaß ist die Vergabe des Wolfpreis 2008 an Pierre Deligne.)
Bei der Riemann-Vermutung geht es ursprünglich um das Abzählen von Primzahlen.
Aus dem Kehlmann-Roman “Die Vermessung der Welt” kennt man ja die Geschichte, daß Gauß bei Langeweile oder Nervosität stets Primzahlen zählte. Auch wenn dies vielleicht von Kehlmann erfunden wurde, ist es aber Tatsache, daß Gauß bereits als 15-jähriger empirisch eine Näherungsformel vermutet hat:
π(n), die Anzahl der Primzahlen, die kleiner sind als n, ist näherungsweise n/log(n)
(diese Näherung wird immer genauer, je größer n ist).
Tatsächlich bewiesen wurde Gauß’ Vermutung erst Ende des 19. Jahrhunderts.
Riemann hatte 1859 versucht, eine genauere Abschätzung für diese Anzahl π(x) herzuleiten (nämlich die im Captcha angegebene Formel), und stieß darauf, daß dies logisch äquivalent dazu ist, eine Aussage über die Nullstellen einer bestimmten Funktion zu beweisen. (Nachtrag: Im Captcha müßte korrekterweise unter dem Integral nicht 0, sondern eine beliebige Zahl > 1 stehen, z.B. 2.) Die Funktion, um deren Nullstellen es geht, heißt heute Riemann’sche Zeta-Funktion, und die Riemann-Vemutung über ihre Nullstellen (und damit auch Riemann’s Abschätzung für die Anzahl der Primzahlen) sind bis heute unbewiesen.
Der Zusammenhang zwischen Primzahlen und Zetafunktion gilt deshalb als wichtig, weil er die Idee für viele analoge Methoden in anderen mathematischen Zusammenhängen liefert. So benutzt man heute Zeta-Funktionen von Differentialoperatoren, Zeta-Funktionen dynamischer Systeme, Zeta-Funktionen von Zahlkörpern, Zeta-Funktionen von Varietäten (z.B. Kurven) über endlichen Körpern.
Zu letzterem: Sei eine Kurve gegeben als Nullstellenmenge eines Polynoms, z.B. x3+y3=1. Wir betrachten die Lösungen dieser Gleichung über dem Körper mit qm Elementen (mit q fest und m variabel). Die Anzahl der Punkte dieser Kurve (d.h. der Lösungen der Gleichung) ist (für große m) näherungsweise qm+1. Wenn man genauere Abschätzungen herleiten will, muß man auch hier die Riemann-Vermutung für die Zeta-Funktion der Kurve beweisen. Diese Variante der Vermutung wurde in den 40er Jahren von Weil bewiesen und benutzte viele (aus heutiger Sicht) Grundlagen der Algebraischen Geometrie, die erst in diesem Zusammenhang ausgearbeitet wurden.
Die analogen Vermutungen für höher-dimensionale Varietäten wurden schließlich unter dem Namen Weil-Vermutungen bekannt. Serre und Grothendieck versuchten in den 50er/60er Jahren mittels Kohomologie-Theorien die Weil-Vermutungen zu beweisen.
1974 gelang Deligne der Beweis der Weil-Vermutungen. Der Wolfpreis (neben dem Abelpreis der wichtigste ‘Lifetime-Award’ in der Mathematik) wird dieses Jahr an Deligne, gemeinsam mit Griffiths und Mumford, für ihre Beiträge zur Algebraischen Geometrie vergeben.
Über Deligne’s weitere Beiträge zur Mathematik, frei übersetzt aus der englischen Wikipedia:
[…] erzielte er neben dem Beweis der Weil-Vermutungen weitere bedeutende Ergebnisse, besonders mit George Lusztig über den Nutzen etaler Kohomolgie für die Konstruktion von Darstellungen endlicher Gruppen vom Lie-Typ, und mit Rapoport über Modulräume vom ‘feinen’ arithmetischen Standpunkt, mit Anwendungen auf Modulformen. Im Zusammenhang mit der Vervollständigung von Grothendieck’s Forschungsprogramm definierte er absolute Hodge-Zykel, als Surrogat für die fehlende und noch weitgehend auf Vermutungen angewiesene Theorie der Motive. Diese Idee erlaubt es für mache Anwendungen, die noch unbewiesene Hodge-Vermutung zu umgehen. Er überarbeiterte die Theorie von Tannaka-Kategorien unter Benutzung von Beck’s Theorem […] All dies ist Teil des ‘yoga of weights’, das Hodge-Theorie und l-adische Galois-Darstellungen in Zusammenhang bringt.
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