Diese Woche hatten wir in Münster eine Premiere: ein Vortrag von Marcel Reich-Ranicki auf einer mathematischen Fachtagung. 1
Für mich einmal eine Gelegenheit, die Unterschiede zwischen geistes- und naturwissenschaftlichen Vorträgen zu beobachten.
In den Naturwissenschaften wäre es, selbst bei einem Vortrag für ein breiteres Publikum, wohl undenkbar, daß jemand einen 60-minütigen Vortrag nicht mit Inhalten füllt, sondern sich einfach nur ohne weitere Begründungen darüber ausläßt, welche Autoren oder Gruppen er gut oder schlecht findet. Die Zuhörer würden einen solchen Vortrag wohl schon nach 10 Minuten in Scharen verlassen.
MRR’s Vortrag zum Thema ‘Wozu braucht man Literatur’ bestand jedenfalls neben einigen allgemeinen Bemerkungen zur Bedeutung des Romans, des Dramas etc. im Wesentlichen aus Polemiken ohne weitere Begründung. Und den Fragen aus dem Publikum nach zu urteilen, war dies auch genau das, was die Zuhörer von ihm erwarteten. (Einer der Hörer stellte sogar ganz direkt die Frage: ‘Gibt es literarische Werke, die Sie für überbewertet halten?’ Natürlich eine Steilvorlage für MRR.)
Das meiste habe ich natürlich wieder vergessen, aber einige Sprüche, an die ich mich noch erinnern kann, waren etwa, daß Schillers Lyrik weit überschätzt wird oder daß Frauen in Deutschland nie gute Dramen geschrieben haben, auch wenn sie auf lyrischem Gebiet durchaus einiges zustande gebracht hätten.
Eine Information habe ich aus diesem Vortrag immerhin doch noch mitgenommen: im Herbst wird ein Film über Reich-Ranicki herauskommen, mit Matthias Schweighöfer (‘Der rote Baron’) in der Hauptrolle als MRR.
1Anlaß der Tagung war der 60. Geburtstag des bekannten schottischen Mathematikers Andrew Ranicki, der Reich-Ranicki’s Sohn ist und es offenbar zu diesem Anlaß erstmals geschafft hat, seinen Vater zu einem Vortrag (für ein breiteres Publikum) auf einer mathematischen Fachtagung zu bewegen. Im Vortrag spielte Mathematik dann aber keine Rolle, bis auf eine biographische Anekdote, die Reich-Ranicki am Beginn seines Vortrages erzählte: er sei als Schüler zunächst immer sehr gut in Mathe gewesen, hätte sich dann aber auf die Literatur gestürzt, weil er es satt gewesen sei, daß Lehrer immer gemeint hätten, Juden könnten zwar durchaus rechnen, verstünden aber nichts von Literatur.
Die Tagung selbst war zum Thema Chirurgietheorie. (Das ist kein Teilgebiet der Medizin, sondern eine Methode zur Klassifikation von mindestens 5-dimensionalen Räumen. Der Name führt natürlich gelegentlich zu Mißverständnissen. So erzählte mir ein polnischer Mathematiker einmal, er habe Ranicki jr.’s Buch über ‘Geometrische und Algebraische Chirurgietheorie’ mal im Schaufenster einer medizinischen Fachbuchhandlung in Szczeczin gesehen.)
(Die Leute ohne Anzug in den hinteren Reihen sind Mathematiker, in den vorderen Reihen mit Anzug sitzt lokale Prominenz.)
Weil es gerade gut zur Überschrift paßt: Katja Schwab hatte gestern im Psychologieblog einen sehr schönen Beitrag:
“Ich möchte so gerne mit Fug und Recht behaupten, dass ich Schriftstellerin sei. Kann ich aber nicht. Ich habe keinen Lektor, keinen Verleger und … kein Buch geschrieben. Das liegt einerseits an meinem mangelhaften Talent (oder Selbstbewusstsein) und andererseits an der Tatsache, dass mir schlicht die Geschichte fehlt. Das Thema. Die Story. Der Plot. Etwas, dass ich für erzählenswert erachte.”
Darauf erhielt sie in den Kommentaren von verschiedenen scilogs-Lesern völlig ernstgemeinte Ratschläge, wie sie auch ohne Inhalt ein Buch veröffentlichen könne. Unbedingt lesenswert!
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