Zum ‘Roman über Gauß, Humboldt und die quantifizierende Erfassung der Welt, über Aufklärer und Seeungeheuer, über Größe und Komik der deutschen Kultur‘ ist unter obigem Titel vor einigen Wochen bei Rowohlt eine von Gunter Nickel herausgegebene Materialsammlung erschienen. Neben bereits veröffentlichten Interviews und Preisreden handelt es sich um sehr lesbar geschriebene Originalbeiträge verschiedener Literaturwissenschaftler zu Themen wie Die Krawatte im Geiste oder Germans and humor in the same book.
Wie man sich denken kann, spielt die Frage der Authentizität in verschiedenen Kapiteln, gerade auch dem von Kehlmann selbst, eine größere Rolle. Zum Beispiel wird in Uwe Wittstock’s Kleistpreis-Laudatio daran erinnert, daß verschiedene deutsche Klassiker wie Schiller’s Jeanne d’Arc, Goethe’s Egmont oder Kleist’s Prinz Friedrich von Homburg äußerst frei mit historischen Fakten umgehen.
Ich hatte eigentlich nie verstanden, warum sich gerade an diesem Roman solche Debatten (zumindest unter Humboldt-Fans und Mathematikern) über inhaltliche Unstimmigkeiten entzündet hatten. (Wobei, jedenfalls laut Kehlmann, die Reaktionen der Gauß-Experten wesentlich weniger beleidigt waren als die der Humboldt-Kenner.) Das prägnanteste Beispiel dafür ist wohl der Brombacher-Effekt (jene offensichtlich abwegige Geschichte, wie Humboldt im Urwald einem Sachsen begegnet, mit dem er aber nichts weiter zu tun haben will, denn Deutsche treffe man ohnehin daheim in Mengen), der zum Beispiel auf dem Kehlmann-Kanal von Zeit-online mit vielen hämischen Kommentaren bedacht wird. (Diese und andere Kuriositäten der Rezeption beschreibt Klaus Zeyringer in einem der Texte.)
Andererseits ist es natürlich tatsächlich zu befürchten, wie Marius Meller in seinem sonst sehr wohlgesinnten Beitrag anmerkt, daß man ‘spätestens wenn die Vermessung der Welt Schullektüre geworden ist, die beiden vornehmlich als Kehlmannsche Figuren wahrnehmen wird.’ (Ein Beispiel dafür: in der ZDF-Sendung Giganten wurden erfundene Zitate Kehlmanns als originäre Humboldt-Äußerungen verwendet.)
Kehlmann kommt im ersten Beitrag selbst zu Wort, unter dem Titel Wo ist Carlos Montufar? (Carlos Montufar war ein junger Südamerikaner, der Humboldt auf einem Teil seiner Reise begleitete, im Roman aber nie erwähnt wird.)
Kehlmann erzählt, daß er erst kurz vor Ende der Arbeit am Roman zum ersten Mal Gauß’ Wirkungsstätte (die Göttinger Sternwarte) betrat und dabei dachte: “Wäre er noch am Leben gewesen, hätte keine ausgefeilte ästhetische Theorie mich schützen können – nicht vor einer Verleumdungsklage, nicht vor seinem Zorn.” Im weiteren schreibt er über verschiedene Abweichungen zwischen Buch und Wirklichkeit. Ein Beispiel: “In einer Szene gegen Ende des Romans taucht diese Telegraphenanlage auf[…]Mit diesem Apparat jedoch, das zeigte mir in der Sternwarte ein einziger Blick, waren Gespräche unmöglich[…]daß der Sendende zuvor einen Boten zum Empfänger zu schicken hatte, um anzukündigen, wann er mit der Übersetzung beginnen werde[…] Noch in Gauß’ Zimmer, zwischen Empfangsgerät, Fenster und Ölbild, beschloß ich, bei meiner alten Version zu bleiben.
Daneben kommt Kehlmann noch in Abdrucken der Interviews in FAZ und Spiegel zu Wort. Diese Interviews stammen von 2005/06, enthalten also natürlich nichts Neues.
Das Buch enthält, offensichtlich um Gauß und Humboldt Gerechtigkeit zukommen zu lassen, Kurzbiographien der beiden. Die über Gauß stammt von Hubert Mania, der auch gerade eine dicke Gauß-Biographie auf Deutsch veröffentlicht hat.
Ein Großteil der Beiträge sind Texte von Literaturwissenschaftlern. Unter anderem arbeiten sie sich an vielen Kritiken ab, sicher berechtigt. Aber darüber hinaus erfährt man auch vieles über literarische Assoziationen im Roman. Die Anspielungen auf den südamerikanischen Magischen Realismus sind ja recht offensichtlich und der Bezug zu Thomas Mann’s Lotte in Weimar ist angesichts des Themas auch nicht überraschend. Aber zum Beispiel war es mir vorher nicht aufgefallen, daß die Beschreibung von Gauß’ Arbeit als Landvermesser sehr stark an den Beginn von Kafka’s Das Schloß angelehnt ist. Gauß ist sozusagen die andere Möglichkeit des Landvermessers K.: im Gegensatz zu K. gelingt es ihm, sich Respekt zu verschaffen.
Kehlmann selbst hat sich in Reden und Büchern immer sehr kritisch über Literaturkritiker geäußert. Das ist insofern bemerkenswert, daß sein Werk von der Kritik ja sehr positiv aufgenommen worden ist. In dem Buch gibt es einen Beitrag von Klaus Zeyringer, der sich recht polemisch mit den Kritiken zu ‘Die Vermessung der Welt’ auseinandersetzt.
Als Kuriosum am Rande hier einige Zitate des Literaturkritikers Denis Schreck, die laut Zeyringer belegen ‘wie sich in den Medien der Blick auf ein Werk mit seinem Erfolg verändern kann’.
Zitat 1 (20.11.2005): glänzend gebauter Roman … erstaunlich viel Humor
Zitat 2 (5.2.2006): der größte kommerzielle Erfolg der deutschen Literatur seit Jahren … ein bißchen ein Schweinchen-Schlau-Roman … ein gutes Buch
Zitat 3 (5.11.2006): Dem Autor gelingt das virtuose Kunststück, beide aufs Podest zu stellen, indem er sie paradoxerweise auf den Teppich holt: ein gutes Buch
Zitat 4 (14.1.2007): Der Roman ist wirklich sehr deutsch. Aber er ist auch sehr gut.
Zitat 5 (11.2.2007): Über eine halbe Million Exemplare wurden verkauft. Das ist schön, denn es ist ein guter Roman. Aber soll ich Ihnen was verraten? So gut ist er nun auch wieder nicht.
Zitat 6 (30.6.2007): Ein blendend unterhaltsamer Roman … jugendbuchhaft oberschlau
Zitat 7 (1.9.2007): glänzend geschrieben … ein bißchen ein Angeberbuch für Bildungsbeflissene
Wohlgemerkt, alle Zitate stammen vom selben Kritiker.
Nachtrag: Zu “Die Vermessung der Welt” siehe auch die letzten 3 Absätze in Gauß, Kehlmann, Kafka, die Vermessung des Königreichs Hannover und Krümmung von Dreiecken.
Kommentare (3)