Heute gibt es wieder ein Jubiläum, das gerade in die Serie paßt: den 200. Geburtstag von Johann Listing, dem heute weitgehend vergessenen Begründer der Topologie und Autor des ersten Topologie-Lehrbuchs.

Listing war ein Schüler von Gauß und hat sich neben der Topologie u.a. mit Erdmagnetismus, Vulkanen und Optik beschäftigt. Über Gauß’ Arbeiten zum Erdmagnetismus und die damit verbundene Formel für die Verschlingungszahl zweier stromführender Drähte hatten wir in den letzten beiden Teilen (Teil 22, Teil 23) geschrieben. Es liegt natürlich nahe, zu vermuten, daß dies der Anstoß für Listings Arbeiten gewesen sein könnte.

Daß Listings Arbeiten damals kaum zur Kenntnis genommen wurden und heute fast vergessen sind, soll (jedenfalls klingt dies bei Szpiro an) damit zu tun haben, daß Listing wegen seiner streitsüchtigen Ehefrau im Kollegenkreis geschnitten wurde. (In Wirklichkeit ist es sicher komplizierter. Listings Arbeiten waren schwer lesbar und enthielten keine wirklich interessanten Ergebnisse. Die Topologie entwickelte sich erst dann als eigenständige Teildisziplin, als Riemann, Betti und vor allem Poincare wirklich anspruchsvolle Sätze bewiesen und Verbindungen zu anderen mathematischen Gebieten herstellten. Dazu und speziell zur Fundamentalgruppe mehr in den nächsten Folgen.)

Auf Listing geht auch (1836) der Begriff “Topologie” zurück, ebenso wie eine Reihe anderer wissenschaftlicher Begriffe von “Geoid” bis “Nodalpunkt”. (Von Poincare und anderen wurde die Topologie später als “Analysis situs” bezeichnet. Die Bezeichnung “Topologie” kam erst um 1930 durch Lefschetz wieder in Mode.)

Das erste Buch (und überhaupt die erste Veröffentlichung) zur Topologie war 1847 Vorstudien zur Topologie. Es besteht aus zwei Teilen: “Von der Position” (in dem es um Koordinatensysteme geht; der Text gilt als schwer lesbar, weil ohne gruppentheoretische Begriffe) und “Von der Helikoide oder Wendellinie”. Einen Reprint des 2.Teils findet man hier. Bemerkenswert aus heutiger Sicht sind die vielen Beispiele aus Botanik und Zoologie. (Aus topologischer Sicht enthält die Arbeit aber wohl keine wirklich bedeutenden Erkenntnisse.)

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Übrigens hat Listing (bereits vor Möbius) 1858 das Möbiusband entdeckt.

1862 veröffentlichte er “Der Census raumlicher Complexe oder Verallgemeinerung des Euler’schen Satzes von den Polyedern”, eine Verallgemeinerung der Eulerschen Polyederformel (die 1817 von Lhuillier für 2-dimensionale Polyeder bewiesen worden war) auf bestimmte 3-dimensionale Polyeder.

Motiviert war diese Arbeit über Polyeder möglicherweise durch seine damaligen Forschungen über Kristalle. Interessant ist vielleicht, daß hier 31 neue Begriffe eingeführt wurden, von denen es aber keiner in die mathematische Fachsprache geschafft hat. Zum Beispiel verwendete er “acyclantisch” für das heute gebräuchliche “einfach zusammenhängend” (siehe Teil 21).

Mehr zur “Fundamentalgruppe” und zu “einfach zusammenhängend” (aus heutiger Sicht) in den nächsten Teilen.

Literatur: Breitenberger in “History of Topology”, Elsevier 1999

Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7 , Teil 8, Teil 9 , Teil 10 ,Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14, Teil 15, Teil 16, Teil 17, Teil 18, Teil 19, Teil 20, Teil 21, Teil 22, Teil 23