Mathematik und Antisemitismus in der Sowjetunion.
Es ist natürlich bei Würdigungen von Wissenschaftlern immer ein schwieriges Thema, wissenschaftliche Leistungen und persönliches/politisches Leben zu trennen.
Lew Pontrjagin (1908-1988), der heute 100. Geburtstag feiern würde, war einer der bedeutendsten Mathematiker der Mitte des 20. Jahrhunderts, später in den 70er/80er Jahren aber eine der einflußreichsten (und umstrittensten) Personen der sowjetischen Wissenschaftspolitik. (Etwas überraschend habe ich heute auch im russisch-sprachigen Netz keine Jubiläums-Artikel gefunden. Nur Lubos Motl war der Geburtstag eine Notiz wert. Die Russische Akademie der Wissenschaften hatte allerdings schon im Juni eine große Centennial-Konferenz, mit spärlicher ausländischer Beteiligung, organisiert.)
Zunächst über einige von Pontrjagin’s wissenschaftlichen Leistungen:
Pontrjagin-Dualität:
Manche Differentialgleichungen löst man mit dem Ansatz, die gesuchte Funktion in Schwingungen (periodische Funktionen) unterschiedlicher Frequenz zu zerlegen. Diese Methode heißt Fourier-Analysis. Eine 2π-periodische Funktion F(x) kann man schreiben als F(x)=f(eix), d.h. man kann sie auffassen als Funktion f auf dem Einheitskreis S1, und es gibt dann die Fourierentwicklung f(eix)= Σ anenix. (Ingenieure schreiben dies meist als Summe in cos(nx) und sin(nx). Das läßt sich aber leicht in die vorige Form umrechnen.) Die Zuordnung n–>an ist eine Funktion auf den ganzen Zahlen Z. Fourierentwicklung gibt also eine Zuordnung zwischen Funktionen auf S1 und Funktionen auf Z. (Man bezeichnet dies als Dualität zwischen Z und S1.) Pontrjagin-Dualität liefert die Verallgemeinerung dieser Theorie auf beliebige (lokal-kompakte) abelsche Gruppen und spielt eine Rolle unter anderem in der Signalverarbeitung.
Pontrjagin-Klassen, kommen z.B. in Hirzebruchs Signatur-Satz vor, lassen sich aber hier nicht in wenigen Worten erklären.
Das Pontrjagin-Thom-Theorem ist vielleicht der grundlegendste Satz der Differentialtopologie, auf ihm bauen z.B. die Berechnung der Kobordismengruppen, der Homotopiegruppen von Sphären oder die Arbeit von Madsen-Weiss über Abbildungsklassengruppen auf. 1
Pontrjagin war seit dem 14. Lebenjahr in Folge einer Explosion blind, was natürlich (wie man hier nachlesen kann) seinen Arbeitsstil beeinflußte. (Übrigens ist es auffällig, daß blinde oder sehschwache Mathematiker sich häufig auf Gebiete wie Geometrie oder Topologie spezialisieren.)
Im deutschen Wikipedia-Eintrag über Pontrjagin wird Politik ganz ausgeklammert, in der russischen Wikipedia wird immerhin die Lusin-Affäre erwähnt und die englische Wikipedia erwähnt die vergleichsweise harmlosen Angriffe auf den IMU-Vizepräsidenten Jacobson, einen Amerikaner. Die ZEIT hatte immerhin letztes Jahr noch einen Artikel zum Thema.
Also bleiben für genauere Informationen nur zeitgenössische Artikel wie der ZEIT-Artikel Russentum als Religionsersatz vom 4.5.1979 oder der Spiegel-Artikel Klima wie bei Kafka vom 15.1.1979.
Ein Auszug aus dem Spiegel-Artikel von 1979:
“Fast immer unter schwer durchschaubaren Vorwänden, berichtet “Science”, werde jüdischen Mathematikstudenten der Zugang zur Universität verwehrt, würden ältere Forscher an akademischen Karrieren gehindert.
Seit geraumer Zeit dürfen sie Einladungen ins Ausland nicht folgen. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten bleiben ungedruckt. Die Akademie der Wissenschaften ist ihnen verschlossen.
Haupt der kleinen, doch bisher einflußreichen Clique von Funktionären, die wieder Rassismus in die sowjetische Forschungspolitik gebracht haben, ist Pontrjagin. Er repräsentiert sein Land in der Internationalen Mathematischen Union, er ist Chef des Herausgeber-Gremiums, das über das Erscheinen aller Fachbücher entscheidet; er wurde schließlich auch Chefredakteur der wichtigen Zeitschrift “Matematitscheski sbornik”.
Darin immerhin wurde Pontrjagins antisemitischer Kurs offenkundig.
Früher stammte stets etwa ein Drittel der rund hundert Beiträge, die das Fachblatt jährlich veröffentlicht, von jüdischen Wissenschaftlern. 1975, als Pontrjagin die Leitung übernahm, sank ihre Zahl auf zwölf, 1976 auf acht. Im ersten Band des Jahrgangs 1977 erschienen noch vier Artikel jüdischer Autoren, im zweiten Band war es nur noch einer, im dritten Band keiner mehr.
In privatem Kreis, berichten sowjetische Mittelsmänner, rühme sich der Funktionär Pontrjagin gar mit einem deutschen Nazi-Terminus: “Matematitscheski sbornik” sei nun “judenfrei”.
Solcher Rassenwahn, der seit Stalins Tod überwunden schien, hat mittlerweile wieder — so “Science” — “ein Klima wie in Kafka-Erzählungen” entstehen lassen. Gerade versteckte Unterdrückung macht es schwer, der bedrängten Minderheit von außen her zu helfen.
Im Jahre 1964 beispielsweise waren 84 von 410 Mathematikstudenten, die an der Moskauer Universität graduiert wurden, Juden. Seit 1970 wurden nur jeweils zwei zum Studium zugelassen.
Unter den Abgewiesenen sind sogar Gewinner der sogenannten Mathematischen Olympiaden. Jurij Sorkin etwa, Erster Preisträger eines solchen Wettbewerbs zur Talentsuche, wurde bei der Aufnahmeprüfung einem weit schwierigeren Problem als russische Studienanfänger konfrontiert.
Er löste es — und Professor Freiman wundert sich noch immer, wie er es ohne Benutzung von Tabellen schaffen konnte. Bei der mündlichen Nachprüfung fiel Sorkin gleichwohl durch.
So kommt es, daß etliche jüdische Mathematiker, die als Kapazitäten weltweit anerkannt sind, nicht den Doktorgrad (der etwa der deutschen Habilitation entspricht) erwerben konnten. International publik aber wurde derartige Diskriminierung erst, nachdem Grigorij Margulis dem Verleihen der Fields-Medaille fernbleiben mußte.”
Zur Erklärung: Aktueller Anlaß des Spiegel-Artikels war damals, daß G. Margulis 1978 der Verleihung der Fields-Medaille fernbleiben mußte, weil die Sowjetunion mit der Preisverleihung nicht einverstanden war. (Die Fields-Medaille ist eine Art Nobelpreis für Mathematiker, der nur an unter-40-jährige vergeben wird.) In Mathematiker-Kreisen hält sich hartnäckig das Gerücht, daß z.B. die Nichtberücksichtigung von M.Gromov für die Fields-Medaille 1982/83 eine Konzession der Internationalen Mathematischen Union IMU war, um im Kalten Krieg das Verhältnis der IMU zur Sowjetunion nicht weiter zu belasten. Eine Bestätigung für solche Gerüchte gibt es aber nicht.
1 Das Grundprinzip ist, daß Homotopieklassen von Abbildungen einer Mannigfaltigkeit M in die Sphäre genau den Kobordismenklassen von “gerahmten” Untermannigfaltigkeiten entsprechen. Einer Abbildung f:M–>Sn entspricht dabei als Untermannigfaltigkeit das Urbild eines (beliebigen) regulären Werts, die “Rahmung” ist das Urbild einer Basis des Tangentialraums in diesem regulären Wert.
Zur Veranschaulichung ein einfaches Beispiel: für jede Abbildung Sn+1 –> Sn erhält man als Urbild eines regulären Werts einen Kreis mit einer n-dimensionalen Rahmung. Die Rahmung erlebt bei einmaligem Durchlaufen des Kreises eine Drehung, also ein Element aus SO(n). Jedem Element aus πn+1Sn entspricht also ein Element aus &pi1SO(n). Weil man &pi1SO(n) berechnen kann, erhält man so &pi3S2=Z und (für n>2) &pin+1Sn=Z/2Z.
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