Punkt und Linie zu Fläche.
Foto: Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
Im Lenbachhaus ist seit gestern die Ausstellung Kandinsky – Absolut. Abstrakt zu sehen, eine Retrospektive mit 90 Gemälden, ausschließlich Hauptwerken aus allen Perioden seines Lebens. (Berichte in der Welt, der SZ, dem art-magazin und sogar der Bild.)
“Punkt und Linie zu Fläche” ist der Titel des Buches, in dem Kandinsky 1926 (analog zur Musiktheorie) eine analytische Theorie von Formen und Farben entwickeln wollte.
Trotz des Titels soll in dem Buch aber so gut wie keine Mathematik vorkommen. (Selbst habe ich es noch nicht gelesen.)
Er analysierte aber die emotionalen Effekte der grundlegenden geometrischen Formen, zum Beispiel:
„Der Punkt ist Urelement, Befruchtung der leeren Fläche. Die Horizontale ist kalte, tragende Basis, schweigend und „schwarz”. Die Vertikale ist aktiv, warm, „weiß”. Die freien Geraden sind beweglich, „blau” und „gelb”. Die Fläche selbst ist unten schwer, oben leicht, links wie „Ferne”, rechts wie „Haus”.”
Blau und Violett. Quelle: serpentsdoves.files.wordpress.com/2008/04/kandinsky-black-and-violet.jpg
Ich habe trotzdem kurz gegoogelt, ob vielleicht jemand mal geometrische Strukturen in Kandinskys Bildern untersucht hat. (Nach meinem Beitrag zur Geometrie der “Sagrada Familia” letzte Woche kommentierte ein Leser, Künstler seien genial und arbeiteten nicht nach mathematischen Formeln. Das ist natürlich richtig. Aber trotzdem kann man ja versuchen, mathematische Strukturen in den Werken zu erkenen.)
Nun, ernsthafte Untersuchungen zu geometrischen Strukturen bei Kandinsky habe ich keine gefunden. Aber wenn man im Web nach Kandinsky und Geometrie sucht, findet man einiges an Tipps, wie Lehrer Kandinsky im Mathematik-Unterricht verwenden können. Zum Beispiel (aus einem Aufgabenblatt für Heimunterricht): “Use as many math words as you can in describing one of Kandinsky’s works.”. Oder Computer-Programme zum Zeichnen Kandinsky-ähnlicher Bilder. Oder die originelle Aufgabe (für den Mathe-Unterricht der 7. Klasse) im Bild unten die Durchmesser aller Kreise zu messen und ihre Umfänge zu berechnen.
Several Circles. Quelle: www.abcgallery.com/K/kandinsky/kandinsky36.JPG
Wie gesagt, ernstzunehmende Texte zu Kandinsky und Geometrie/Topologie habe ich im Netz nicht gefunden.
Etwas ratlos läßt mich allerdings der folgende Auszug aus einem Text des Ethnomathematikers D.Huylebrouck von der Universität Brüssel (veröffentlicht in den Proceedings der Form&Symmetry-Konferenz 2007) über den Zusammenhang von Kandinsky, Expressionismus, Topologie und Psychoanalyse:
Expressionism stands for the tendency of transforming reality for an emotional effect (often not joyful), the primary goal of the painting. Of course, most artists envisage an emotional effect but expressionists even omit secondary attributes to stress shapes and colours to emphasize emotion. Edvard Munch’s painting “Scream” is a typical example. As for music, the “screaming emotions” lead right away to the main character of Arnold Schoenberg’s short opera “Erwartung” (1909), written in his atonal period (before his focus on the twelve tone system). A painting by Schoenberg, called “Der Rote Blick” (Red Gaze) seemed to confirm this. He shared the (interdisciplinary) view with his friend painter Wassily Kandinsky that an artist should express the unconsciousness. This interdisciplinarity is another feature of expressionism.
Likewise, topology explicitely omits certain mathematical properties such as distances and angles, in favor of the study the shape of surfaces and volumes. For a topologist, letters a and b have the same shape, while the border of a Möbius strip is nothing more but a circle, and a donut or a cup of coffee can be identified by a “smooth” transformation. Remarkably enough, the interdisciplinary outreach to psycho-analysis is confirmed for topology. Psychoanalist Jacques Lacan had a weakness for Freud, and used topological comparisons to explain his theories. Unlike artists, scientists such as physicists Alan Sokal and Jean Bricmont, opposed to what they called an abuse of their work. Because if the prime subject of expressionisem, it is not surprising a connection could be made to times of social uprisal or war. Anecdotically, when Jean Leray led his university in the Edelbach concentration camp, he turned to … topology.
Tja, was soll man dazu sagen? Natürlich ist es immer zu begrüßen, wenn Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Gebieten hergestellt werden.
Aber offensichtlich sollte man nur dann Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gebieten herstellen wollen, wenn man entweder alle diese Gebiete versteht oder zumindest für jedes Gebiet einen kompetenten Koautor hat. (Wobei in diesem Fall der Autor eigentlich sogar Mathematiker ist. Und, falls jemand den Text für Satire hält: Das ist er nicht! Er wurde in einem offiziellen Konferenzbericht veröffentlicht.) Jedenfalls hat mich dieser Nonsens noch mal an eine Diskussion erinnert, über die ich neulich in den scilogs gestolpert bin. Es ging dort i.W. darum, daß man geisteswissenschaftliche Moduln in naturwissenschaftlichen Studiengängen einführen sollte und daß es doch schließlich genug befähigte Leute für solche Jobs geben würde.
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