Wie man überflüssiges Fett verliert.

Daß diese Folge gerade die Nummer XL hat, ist reiner Zufall, auch wenn es gut zur Titelzeile paßt.

In den letzten Wochen hatten wir Anwendungen von Fixpunktsätzen auf die Berechnung von Preis-Gleichgewichten oder das Lösen von Differentialgleichungen diskutiert.

Der Zusamenhang zum eigentlichen Thema dieser Reihe war, daß beim Beweis des Brouwerschen Fixpunktsatzes in TvF 33 die Fundamentalgruppe benutzt wurde. Dabei hatten wir hatten wir allerdings bei deren Berechnung für Kreis bzw. Kreisscheibe nur vage darauf verwiesen, daß der Kreis in die punktierte Ebene und die Kreisscheibe in einen Punkt deformiert werden kann.

Die Präzisierung dieses Arguments soll heute und nächste Woche nachgeholt werden.

Dazu definieren wir zunächst den Begriff Deformationsretrakt:
Sei A eine Teilmenge eines Raums X. A ist ein Deformationsretrakt von X, wenn es eine stetige Abbildung p:X–>A gibt, so daß
– p(a)=a für alle Punkte a in A,
– p ist homotop zur identischen Abbildung (d.h. es gibt eine stetige Abbildung H:X x [0,1] –>X mit H(x,0)=p(x), H(x,1)=x für alle x.)

In einem Skript, aus dem ich mal Topologie I gelernt habe, hieß es, daß “der Raum X bei der Deformation auf A an überflüssigem Fett verliert, während sein ‘Homotopietyp’ dabei gleich bleibt“. (Darauf bezieht sich die Titelzeile)

Die Definition mag recht abstrakt erscheinen, aber an Beispielen kann man sich alles recht einfach klarmachen.

Zum Beispiel ein Zylinder der Form F x [0,1] mit einer Grundfläche F. Hier kann man für p einfach die Projektion des Zylinders auf die Grundfläche nehmen: p(x,y)=x. Als Homotopie H kann man z.B. nehmen H((x,y),t)=(x,ty). Die Grundfläche ist also ein Deformationsretrakt des Zylinders.

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Insbesondere hat der Kreiszylinder den Grundkreis als Deformationsretrakt. (Und auf ähnliche Weise enthält auch die punktierte komplexe Ebene den Einheits-Kreis als Deformationsretrakt, mit der Zentralprojektion p(z)=z/IzI. )

Weniger offensichtlich ist vielleicht, daß auch das Möbiusband einen Kreis als Deformationsretrakt hat, nämlich seine ‘Mittellinie’. (Man kann die Hälften links und rechts der Mittellinie gleichmäßig in die Mittellinie stauchen. Und weil man beide Hälften gleich behandelt, spielt es keine Rolle, daß man eigentlich links und rechts gar nicht unterscheiden kann.)

Räume, die einen Punkt als Deformationsretrakt enthalten, nennt man kontrahierbar. Dies ist zum Beispiel der Fall für Mengen ohne ‘Löcher’ in der Ebene, etwa das schwarze Quadrat oder natürlich auch eine Kreisscheibe( d.h.ausgefüllte Kreisfläche), eine Sechsecksfläche wie das Packard-Logo etc.

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Insbesondere ist also der Punkt ein Deformationsretrakt der Kreisscheibe, und der Kreis ein Deformationsretrakt der gepunkteten Ebene. Daß man dies zur Berechnung der Fundamentalgruppe nutzen kann, diskutieren wir nächste Woche.

Ein zwar elementares, aber subtileres Beispiel findet man übrigens in einer Übungsaufgabe im Hatcher: “Let X be the subspace of R2 consisting of the horizontal segment [0,1]x{0} together with all the vertical segments {r}x[0,1-r] for r a rational number in [0,1]. Show that X deformation retracts to any point in the segment [0,1]x{0}, but not to any other point.” Lösung hier

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