Differentialgleichungen, Fixpunkte und unendliche Dimensionen.

Letzte Woche schrieben wir darüber, daß man bei der Berechnung von Zinsen, radioaktivem Zerfall oder beim Wachstum von Tierpopulationen Differentialgleichungen wie zum Beispiel f(x)=f'(x) lösen muß. Heute soll es darum gehen, daß sich solche Differentialgleichungen mit Hilfe von Fixpunktsätzen lösen lassen.

Bleiben wir der Einfachheit halber bei der Differentialgleichung f(x)=f'(x) mit der Anfangsbedingung f(0)=1.

Bekanntlich ist Integration gerade die Umkehrung des Ableitens, also ist
f'(x)=f(x)
gleichbedeutend mit
f(x)=f(0)+\int_{0}^x f (t)  \; dt.
Wenn wir auf dem Raum aller stetigen Funktionen f:R–>R die Abbildung F ansehen, die jeweils die Funktion f(x) auf die Funktion f(0)+\int_{0}^x f (t)  \; dt (als Funktion von x) abbildet, dann sind die gesuchten Lösungen f(x) also Fixpunkte von F. (Etwas ungewohnt ist vielleicht, daß F auf dem Raum aller stetigen Funktionen1 definiert ist. Dieser Raum ist unendlich-dimensional, ist also keiner der Räume, die sich ‘vorstellen’ lassen. Auch wenn man auf YouTube durchaus Videos angeblich unendlich-dimensionaler Welten findet. Zum Beispiel firmiert das Video unten unter dem Titel “Infinite Dimensions”. Mir ist nicht klar, warum.)

In TvF 33 hatten wir gezeigt, daß jede stetige Abbildung F:D2–>D2 einen Fixpunkt hat. (D2 bezeichnet die 2-dimensionale Kreisscheibe.) Der Beweis benutzte die Fundamentalgruppe, und dies war der Anlaß, dem Brouwerschen Fixpunktsatz in dieser Reihe mehrere Beiträge zu widmen.

Derselbe Brouwersche Fixpunkt-Satz gilt auch für (endliche) höhere Dimensionen, d.h. jede stetige Abbildung F:Dn–>Dn hat einen Fixpunkt. (Der Beweis benutzt höherdimensionale Homologiegruppen.)

Falls die Abbildung F zusätzlich noch kontrahierend, d.h. abstände-verringernd ist, dann kann man den Fixpunkt von F finden, indem man mit einem Punkt x beginnt und dann immer wieder F anwendet: F(x), F(F(x)), F(F(F(x))), … Die Folge nähert sich dem Fixpunkt an. Das ergibt sich aus dem (jedem Mathe-Erstsemester bekannten) Beweis des Banach’schen Fixpunktsatzes.

Hier wenden wir dies hier nun auf den Raum der Funktionen an, d.h. wir setzen keinen Punkt x ein, sondern eine Funktion f. Wir ‘bewegen’ uns also auf dem Raum aller stetigen Funktionen, einem unendlich-dimensionalen Raum. Der Banachsche Fixpunktsatz gilt auch für solche Räume. (Genauer: er gilt allgemein für ‘vollständige metrische Räume’, vgl. die Fußnote unten.)

Wenden wir nun dieses Verfahren auf die Fixpunktgleichung f(x)=f(0)+\int_{0}^x f (t)  \; dt an, mit Startpunkt z.B. f=1. Dann ist
F(f)= 1+\int_{0}^x f (t)  \; dt=1+\int_{0}^x 1  \; dt=1+x,
und man berechnet jeweils durch 1+ Integrieren der vorherigen Funktion:
F(F(f))=1+x+x2/2,
F(F(F(f)))=1+x+x2/2+x3/6,
F(F(F(F(f))))= 1+x+x2/2+x3/6+x4/24 usw.
Man sieht, daß die Folge gegen die Summe 1+x+x2/2!+x3/3!+… konvergiert und diese Summe ist bekanntlich gerade die Potenzreihenentwicklung der Exponentialfunktion exp(x).

exp(x) als Lösung von f'(x)=f(x) hätte man wohl auch durch Raten finden können. Aber mit derselben Methode (dem Picard-Lindelöf-Verfahren) kann man nicht nur diese spezielle, sondern auch (fast) jede andere gewöhnliche Differentialgleichung lösen.

Das Picard-Lindelöf-Verfahren ist das klassische Verfahren, mit dem man die Lösbarkeit fast aller gewöhnlichen Differentialgleichungen beweist. In der Praxis verwendet man aber je nach Gleichungstyp andere schnellere Verfahren.

Übrigens, wie letzte Woche erwähnt, kann man die Lösungen von f=f’ natürlich auch als Fixpunkte der Abbildung auffassen, die f auf f’ abbildet. Die Abbildung f –> f’ ist aber nicht kontrahierend, wie das Bild unten zeigt. Deshalb läßt sich der Banach’sche Fixpunktsatz nicht anwenden und man kann die Lösung von f=f’ nicht einfach dadurch finden, daß man mit irgendeiner Funktion startet und immer wieder ableitet.

Die Funktion im Bild hat ‘zwischendurch’ sehr große Ableitungen, obwohl sie keine sehr großen Werte annimmt. Dies zeigt anschaulich, daß d(f,0) < d(f',0) ist. Die Abbildung f-->f’ ist also nicht abstände-verringernd.

1 Der Abstand zweier stetiger Funktionen ist definiert durch d(f,g)=sup{If(x)-g(x)I}. Mit diesem Abstand ist der ‘Raum aller stetigen Funktionen’ ein metrischer Raum (TvF 8).
Der Vollständigkeit halber sollten wir noch erwähnen, daß man (um den Banach’schen Fixpunktsatz anzuwenden) einen vollständien metrischen Raum braucht, weshalb man sich beschänkte abgeschlossene Intervalle U und V um 0 bzw. 1 nimmt und dann nur den Raum der stetigen Funktionen von U nach V betrachtet. Dieser metrische Raum ist vollständig.

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