“Das Wuchern des Gehirns könnte durch eine lange Periode der Vorgeschichte hindurch ebenso Hindernis wie Hilfe für die Vorfahren des homo sapiens gewesen sein.” – zum Geburtstag von Christa Wolf.
‘Unsere Christa hat wieder die schönste Erzählung geschrieben’, so oder ähnlich kommentierte Thomas Brussig in ‘Helden wie wir’ viele ihrer Bücher.
Zum heutigen runden Geburtstag der bekannten deutschen Schriftstellerin ein paar Zitate aus ihrer einzigen allgemein-verständlich geschriebenen Erzählung “Störfall”:
“Kein Chirurg könnte in den Gehirnen der Männer, die sich die Verfahren zur sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie ausgedacht haben, zu jener Gruppe neuronaler Verbindungen vordringen, die keine Ruhe gab. Deren Dauerregung nur zu stillen war durch die Arbeit an ausgerechnet den Problemen, die das ungebändigte Atom seinen Bändigern stellte. Ohne dieses Ziel, vermute ich versuchsweise, hätten sie nichts mit sich anzufangen gewußt; hätten maßlos unter ihrer überentwickelten Gehirntätigkeit leiden müssen –
[…]
Was sie kennen, diese halben Kinder mit den hochtrainierten Gehirnen, mit ihrer ruhelosen, Tag und Nacht fieberhaft arbeitenden linken Gehirnhälfte – was sie kennen, ist ihre Maschine. Ihr lieber geliebter Computer. An den sie gebunden, gefesselt sind, wie nur je ein Sklave an seine Galeere. Ernährung: Erdnußbutterbrote. Hamburgers mit Tomatenketchup. Cola aus dem Kühlschrank. Was sie kennen, ist das Ziel, den atomgetriebenen Röntgenlaser zu konstruieren, das Kernstück jener Phantasie von einem total sicheren Amerika durch die Verlegung künftiger Atomwaffenschlachten in den Weltraum.
[…]
Das Wuchern des Gehirns könnte durch eine lange Periode der Vorgeschichte hindurch ebenso Hindernis wie Hilfe für die Vorfahren des homo sapiens gewesen sein.”
Christa Wolf ist, sicher zu Recht, häufig vorgeworfen worden, ihre Texte und Romane so verschwurbelt zu formulieren, daß eventuelle politische Kritik nur von Eingeweihten und nicht von den Kritisierten verstanden und gehört werden konnte.
Schon erstaunlich, daß ihre einzige Erzählung, dessen Aussage unverschlüsselt und für jeden verständlich daherkommt, eben der “Störfall”, sich nicht mit Politik, sondern mit Wissenschaft und Technik beschäftigt.
Und so bleibt dann der Eindruck, daß hier schlicht die eigentlichen (politischen) Hintergründe der Tschernobyl-Katastrophe (vor deren Hintergrund der Roman spielt) verdrängt werden sollen.
Oder wie Richard Herzinger gestern in der WELT schreibt
“Lebte die sozialistische Ideologie stets von der Überzeugung, Fortschritt und Zukunft auf ihrer Seite zu haben, wird bei kritisch-loyalen Schriftstellern und Intellektuellen in der DDR jetzt [in den 70er/80er Jahren] Scheitern und Rückständigkeit zum Ausweis dafür, mit der nichtkapitalistischen zumindest doch die weniger zerstörerische Seite im Kampf der Systeme gewählt zu haben.
Der Rückgriff auf die Zivilisationskritik erlaubte es, Kritik an den eigenen Verhältnissen in der Abstraktion letzter Menschheitsfragen aufzulösen. In “Störfall” räsoniert Christa Wolf, nach Tschernobyl, allgemein über das Verhängnis entfesselter Wissenschaft und Technik, ohne die fehlende öffentliche Kontrolle im totalitären Sozialismus anzusprechen, die das Betreiben veralteter Atomkraftwerke möglich machte. Ein solches vom Typ Tschernobyl stand auch in Greifswald. “
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