Gehirn und Denken, Wissenschaft, Pseudowissenschaft und Newton.
Wie gesagt will ich hier in den nächsten Wochen einiges aus David Ruelles Buch “Wie Mathematiker ticken” ausführlicher besprechen.
Im (sehr kurzen) 1.Kapitel geht es, natürlich, erst einmal darum, worum es in dem Buch eigentlich gehen soll (und worum nicht):
Wie entsteht ein Problem? Wie wird es gelöst? Was macht das Wesen wissenschaftlichen Denkens aus?
[…]
… dass wissenschaftliches Denken am besten zu ergründen sei, indem man die gute wissenschaftliche Praxis untersucht
[…]
Beispielsweise habe ich ernstliche Vorbehalte gegenüber dem mathematischen Platonismus, den zahlreiche Mathematiker vertreten. Trotzdem aber erscheint die Frage an Berufskollegen, wie sie arbeiten, ein besserer Ausgangspunkt zu sein als ideologisch geprägte Ansichten darüber, wie sie ticken sollten.
Worum es also geht – wie funktioniert wissenschaftliches Denken, wie hängt die Struktur der menschlichen Wissenschaft “vom besonderen Wesen und Aufbau des menschlichen Gehirns” ab?
Insbesondere betont er die Unterschiedlichkeit der wissenschaftlichen Methode in unterschiedlichen Disziplinen (wehalb im Buch nur das ‘mathematische Gehirn’ diskutiert werden wird) und auch daß sich das, ‘was wir Wissen nennen’ mit der Zeit verändert habe.
Sein Beispiel für die letzte These ist Newton: dessen Arbeiten zu Infinitesimalrechnung, Mechanik und Optik sind heute große Wissenschaft, seine Arbeiten zu Alchemie und seine Prophezeiungen aus Bibelstudien sind heute (erwiesenermaßen) Pseudowissenschaft. (Das Video unten ist von 60 Symbols – falls jemand den da Vinci Code nicht gesehen hat.)
Auch wenn das viele scienceblogs-Leser sicher enttäuschen wird: der Verweis auf Newton bleibt das einzige Vorkommen von Pseudowissenschaft im Buch 🙂
In den Fußnoten erwähnt er aber noch einen relativ aktuellen Fall von Prophezeiungen, an dem Mathematiker beteiligt waren.
Da die Geschichte inzwischen schon wieder 15 Jahre her ist, lohnt es noch mal zu erinnern: es ging darum, daß 3 Autoren (einer davon, Ilya Rips, eigentlich ein bedeutender Gruppentheoretiker, dessen Rips-Komplex einen klassifizierenden Raum für hyperbolische Gruppen gibt) behauptet hatten, die Namen, Geburts- und Sterbedaten bekannter Rabbiner in der Bibel wiederfinden zu können (wenn man Wörter aus äquidistanten Buchstaben bildet) und zwar obwohl dies, so behaupteten sie, aus statistischen Gründen sehr unwahrscheinlich sei. Die Arbeit wurde 1994 in Statistical Sciences veröffentlicht und bekam in Israel viel Aufmerksamkeit. (Ausführliche Diskussion bei der BBC.) Eine Reihe von Mathematikern mußte viel Arbeit darauf verwenden, diese Behauptung (der statistischen Unwahrscheinlichkeit) zu widerlegen. Zum Beispiel wurde gezeigt, daß man dieselben Daten auch aus Tolstoi’s “Krieg und Frieden” gewinnen könnte. Bei Bar-Natan findet man noch einige Arbeiten, die beweisen daß es sich um ‘selektive Daten-Manipulation’ handelte.
(Ein anderes aktuelles Beispiel mathematischer Pseudowissenschaft, das einem in diesem Zusammenhang einfällt, ist Fomenko’s Chronologiekritik.)
Wie gesagt, das nur als Beispiele dafür, daß auch ein Mathematiker-Gehirn pseudowissenschaftlichen Unsinn produzieren kann. Bei Ruelle geht es im Rest des Buches dann aber um richtige Mathematik und um das Denken der Mathematiker. (“The Mathematicians Brain” hieß das Buch im englischen Original. ‘The Mathematicians Thinking’ wäre vielleicht ein besserer Titel gewesen, denn um Hirnforschung geht es in dem Buch definitiv nicht.)
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
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