Unendlichkeit, Unbeweisbarkeit, Unberechenbarkeit.
Nach den Abschweifungen der letzten Kapitel geht es im 12. Kapitel von “Wie Mathematiker ticken” jetzt wieder um Mathematik:
Mengenlehre
Ein Großteil der heute betriebenen Mathematik baut auf einem Axiomensystem auf, das als ZFC bezeichnet wird (für Zermelo-Fraenkel-Choice nach Ernst Zermelo, Adolf Fraenkel und dem englischen Begriff “[Axiom of] Choice” für Auswahlaxiom). Tatsächlich jedoch verwenden Mathematiker die eigentlichen Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre mit Auswahlaxiom nur selten: Stattdessen berufen sie sich auf bekannte Theoreme, die sich auf ZFC zurückführen lassen.
Eines der Axiome ist zum Beispiel:
Auf deutsch: es gibt eine Menge, welche kein Element enthält (die sogenannte leere Menge).
Unendliches
Ein anderes Axiom ist:
Umgangssprachlich: es gibt unendliche Mengen.
Die kleinste unendliche Menge ist übrigens die Menge der natürlichen Zahlen, die sich z.B. so konstruieren läßt:
Unendliche Mengen haben die Eigenschaften, daß es Teilmengen mit der selben Anzahl von Elementen gibt: z.B. gibt es genauso viele gerade Zahlen wie natürliche Zahlen: jeder natürlichen Zahl n entspricht eindeutig eine gerade Zahl 2n. (Auch jede andere unendliche Teilmenge der natürlichen Zahlen hat genau so viele Elemente wie die natürlichen Zahlen.)
Gibt es auch unendlich viele Primzahlzwillinge (d.h. Paare von Primzahlen p,q mit p – q = 2) ?
… versuchen das Problem der Primzahlzwillinge mit brachialer Gewalt zu lösen. Dazu errechnen wir sämtliche Primzahlen unter einem Wert N (was man ganz explizit tun kann), suchen danach die Zwillingspaare heraus (auch dies kann man ganz explizit tun) – und dann stecken wir fest: Wir müßten die Rechnung für beliebig große N durch führen, und das würde unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Lösung des Problems ist im Unendlichen verborgen, in den beliebig großen Werten für N.
(Die Frage, ob es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt, ist offen. Bis 1018 gibt es 808675888577436 Paare, das größte bekannte Zwillingspaar hat 100355 Dezimalstellen. )
Andererseits wußte schon Euklid, daß es unendlich viele Primzahlen gibt: dafür gibt es einen einfachen Beweis, der von Ruelle erklärt wird (freilich ohne ihn auf ZFC zurückzuführen, sondern mit Hilfe der aus der Schule bekannten Eigenschaften natürlicher Zahlen).
Die Schönheit der Mathematik liegt darin, dass findige Argumente Antwort auf Fragestellungen geben können, bei denen ein gewaltsames Vorgehen sinnlos wäre, es aber gleichzeitig keine Garantie dafür gibt, dass es immer ein findiges Argument gibt!
Beweisbarkeit
Es gibt einen Algorithmus, der eine Liste von Aussagen hervorbringt, die sich aus den ZFC-Axiomen beweisen lassen. Es gibt jedoch keinen Algorithmus, der eine Liste aller Aussagen hervorbringt, die sich aus den ZFC-Axiomen nicht beweisen lassen.
Die Menge der nicht beweisbaren Aussagen ist also nicht rekursiv aufzählbar, im Gegensatz zur Menge der beweisbaren oder auch zur Menge der widerlegbaren Aussagen. Insbesondere gilt der Gödelsche Unvollständigkeitssatz: Ist eine Theorie widerspruchsfrei, so gibt es Aussagen, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen.
Berechenbarkeit
Bei der Arbeit mit unendlichen Mengen sind den Aufgaben, die sich effektiv durchführen lassen, Grenzen gesetzt.
“Effektiv durchführbar” heißt i.W. daß die Aufgabe mit einem Rechner durchgeführt werden kann. Genauer gibt es unterschiedliche Konzepte von Berechenbarkeit von Gödel, Church und Turing
Aus Gödels Arbeit folgt, daß “die Länge des kürzesten Beweises einer beweisbaren Aussage der Länge L” keine effektiv berechenbare Funktion von L ist (also kein Polynom, Exponential, Exponential von Expoenentialen usw.)
An dieser Stelle mag man sich fragen, was für ein Spiel die Mathematiker spielen, wenn sie intuitiv nicht erfaßbare Vorstellungen einführen, wie Mengen , die sich nicht durch einen Algorithmus darstellen lassen, oder Funktionen, die nicht effektiv berechnet werden können. Muß das wirklich sein?
[…]
Manche unserer Vorfahren jedoch blickten über das Schafezählen und deren Tausch gegen Krüge voll Wein oder Öl hinaus: Sie begannen sich Gedanken über Zahlen im Allgemeinen zu machen, über alle denkbaren Dreiecke oder andere geometrische Formen. Der Moment in der Antike, als dies geschah, bildete die Geburtsstunde der Mathematik. Wer über allgemeine Eigenschaften von Zahlen oder Dreiecken nachdenken will, kann nicht mit den Brachialmethoden vorgehen, jedes einzelne dieser Objekte zu betrachten – es gibt zu viele davon.
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
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