Alkohol, Autismus, Kahlköpfigkeit – wie Mathematiker ticken.
In Kapitel 15 von “Wie Mathematiker ticken” geht es nicht nur um Mathematik, sondern um Mathematiker (es dürfte wohl dieses Kapitel sein, auf das sich der Klappentext bezieht), also darum, wie jemand ticken muß, der zum Beispiel den Beweis der Irrationalität der Wurzel aus 2 oder von π schön findet.
Typisch für die Mathematik ist im Vergleich zu anderen Wissenschaften, dass diese Disziplin eine große Freiheit bietet, das es keinerlei Sperrgebiete oder Geheimdoktrinen gibt. Nur in seltenen Fällen werden sie als Mathematiker um die Vorlage von Abschlusszeugnissen gebeten, und intelligentes Aussehen spielt keine Rolle. (Manche versuchen intelligent zu wirken, indem sie die Stirn runzeln, die Augen zusammenkneifen, auf ihre Nasenspitze oder aber an die Decke blicken, als wollten sie sich mit dem Allmächtigen beraten – all das ist unwichtig, vergessen sie es einfach.) Die Arbeiten von Kollegen zu kennen, ist wichtig, aber es ist keine Teamarbeit. (Außerhalb der Mathematik und der theoretischen Physik spielt wissenschaftliche Forschung sich hauptsächlich in Arbeitsgruppen ab.) Sie haben also die Chance, den Machtbeziehungen und Ambivalenzen zu entkommen, mit denen eine hierarchische Ordnung häufig verbunden ist. Natürlich gibt es Mathematiker, die herrschen, und andere, die dienen wollen; wieder andere werden versuchen, Sie irgendwie in ihre Neurosen hineinzuziehen. Mit etwas Glück jedoch, und wenn es Ihr Wunsch ist, können Sie sich all diese Menschen vom Leib halten. Mathematische Forschung ist in höchstem Maße etwas für Einzeluntenehmer. Sie erfordert geistige Beweglichkeit und die Geduld, in einem unendlichen und trostlosen Labyrinth umherzuwandern, bis man auf etwas stößt, das kein Mensch je zuvor erkannt hat: einen neuen Blickwinkel, einen neuen Beweis, ein neues Theorem.
Im weiteren wird diskutiert, wie sich verschiedene Einflüsse und Veranlagungen auf die Begabung zur Mathematik auswirken, zum Beispiel Alkohol und Drogen (schädlich, allerdings könne maßvoller Weinkonsum helfen, langsamer zu denken und so Fehler zu vermeiden) oder Autismus (diesbezügliche Vermutungen bzgl. Newton, Dirac, Einstein würden sich nur auf Einzelberichte, nicht auf klinische Befunde stützen). Und es wird erklärt, warum Mathematiker nicht in Talkshows auftreten:
Wer sich an einer öffentlichen Diskussion beteiligt oder einen schwierigen chirurgischen Eingriff vornimmt, wird womöglich rasche Entscheidungen treffen müssen: Manche sind besser, andere nicht so gut – aber Zögern oder Entscheidungsunfähigkeit sind hier die schlechteste Entscheidung. Wer hingegen an einem mathematischen Beweis arbeitet und plötzlich Zweifel bekommt, ob das Gesagte korrekt ist, sollte keinen Schritt weitergehen, sich Zeit lassen und zweifelsfrei sicherstellen, dass das Argument wasserdicht ist.
Etwas ausführlicher wird dann auf den letzten beiden Seiten die Person und das Schaffen von Alan Turing beleuchtet (wir hatten hier mal über die Turing-Petition berichtet).
Es ist unter ihnen [den Mathematikern] eine große Bandbreite an Persönichkeitstypen und sogar psychischen Störungen zu finden, sofern diese sich nicht auf die Intelligenz auswirken.
[…]
Soeben haben wir dargelegt, wie ein bestimmter Persönlichkeitstyp dazu beitragen kann, dass man ein guter Mathematiker wird. Logischerweise müssen wir auch einräumen, dass mathematische Tätigkeit die Persönlichkeit beeinflussen kann. Ich halte dies tatsächlich allein aus dem Grund für zutreffend, dass mathematische Spitzenforschung Schwerstarbeit ist.
[…]
Man könnte die Bewältigung einer großen mathematischen Arbeit mit dem Höhenbergsteigen vergleichen: Beides sind bewundernswerte, aber gefährliche Leistungen. Hier wird der Geist, dort der Körper an seine Grenzen gebracht, und man zahlt einen Preis dafür: Abgesehen von einem Nervenzusammenbruch führt die Überlastung des Gehirns bei Mathematikern häufig zu Geistesabwesenheit und einem mangelnden Sinn fürs Praktische (Dichter genießen einen ähnlichen Ruf). Ein weiteres Resultat übermäßiger Gehirntätigkeit ist möglicherweise die unter Intellektuellen (“Eierköpfen”) weit verbreitete Kahlköpfigkeit.
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
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