“weil es Mathematik und keine Wahrsagerei ist”.
Bekanntlich ist Spiegel-Online in den letzten Jahren zum Vorkämpfer gegen wissenschaftlich begründete Prognosen avanziert (siehe dazu z.B. den Artikel “Spiegel vs Zeit” oder die Diplomarbeit von Robin Avram.)
Aber diesmal ist man wohl selbst hereingefallen: “Deutschland wird Weltmeister” wurde behauptet, und das sei keine Wahrsagerei, sondern Mathematik.
Günter Ziegler hat sich in der letzten Ausgabe der Mitteilungen der DMV (die einige Tage vor Beginn der Fußball-WM erschien) mit der Spiegel-Prognose auseinandergesetzt:
Weil’s heute ernst wird bei ‘Mathematik im Alltag’ sollten wir mit den guten Nachrichten beginnen – auch wenn wir die am Ende nicht glauben. Die gute Nachricht ist “Deutschland wird Weltmeister”. Das verkündet Metin Tolan, Professor für experimentelle Physik an der TU Dortmund, unter anderem auf spiegel.de (siehe https://www.spiegel.de/video/video-1063895.html). Die Behauptung ist , die Platzierung bei der WM “kann man sich ausrechnen”, weil die nämlich periodisch um den Mittelwert P=3,7 schwankt.
Und das packt Professor Tolan in die Formel
P(n)=(P+0.5)+(P-0,5)cos(2πn/4.5)
wobei P(n) die Platzierung bei der n-ten Weltmeisterschaft ist, also diesmal n=17. (Gemeint ist offensichtlich die n-te WM, an der Deutschland teilgenommen hat. TK)
Ein Problem dabei: Voraussagen sind notorisch schwierig, insbesondere, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. (Dieses schöne Zitat wird unter anderem Niels Bohr, Albert Einstein, Groucho Marx und Woody Allen zugeschrieben – siehe www.larry.denenberg.com/predictions.html.)
Schlimmer: Hier wird wieder mal die Autorität der Mathematik beschworen, um Aufmerksamkeit zu erlangen, im Originalton des Spiegel-Videos heißt das “weil es Mathematik und keine Wahrsagerei ist”.
Noch schlimmer: es verschleiert, dass da doch aus sehr wenigen Daten sehr viel Wirbel gemacht wird. Die Übungsaufgabe lautet doch: Wie lautet die nächste Zahl in der fokgenden (unendlichen??) Folge
1954, 1974, 1990, …
Und es gibt natürlich tausend Formeln, die man aufstellen kann, die als nächste Zahl dann wahlweise 2010, 2014, 2016 oder 2020 ergeben. John von Neumann soll gesagt haben: “an vier Parameter kann ich einen Elephanten anpassen, und mit dem fünften kann ich seinen Rüssel wackeln lassen.”
Nur hat der Kollege Tolan seine Formel offenbar nicht richtig angepasst: Sie sagt uns die Weltmeisterschaft schon für 2006 voraus. Damals war’s ja knapp, mit dem Sommermärchen.
Was soll das mit der Formel? Ist das ernst gemeint? Missbrauch von Mathematik? Lustig? Jedenfalls ist es vermutlich effektive Buch-Werbung
Spiegel-Online hat das Interview inzwischen aus dem Netz genommen 🙂
(Nachtrag: man kann jetzt auf https://www.spiegel.de/video/video-1074043.html das Video anschauen, wenn man ‘Tolan’ in Video-Suche eingibt.)
Die Formel sagt übrigens voraus, daß Deutschland immer abwechselnd die Plätze 4.7, 1.2, 2.6, 6.7, 6.7, 2.6, 1.2, 4.7 und 4.2 belegt. Wobei (gerundet) Platz 1 eigentlich für +/-n=2 mod 9, also in den Jahren 1938, 1970, 1986, 2006 vorhergesagt wird. Oder verstehe ich hier etwas falsch?
Zur Anpassung eines Elefanten an 4 Daten siehe auch den Artikel von Francis the Mule.
Also besser auf die Krake verlassen – die Wahrscheinlichkeit, 3 Gruppenspiele und 5 KO-Spiele richtig vorherzusagen, beträgt übrigens (1/3)3(1/2)5=1/864=0,116%.
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