Menschliches Verhalten als Anwendung der Festkörperphysik: “Wir sind berechenbar – Wie sich das Verhalten von Menschenmassen voraussagen lässt.” Wirklich?
Ich weiß, es ist ein bißchen früh, schon am Tag danach ein solches Unglück zum Anlaß einer Diskussion nehmen, zumal man noch nicht endgültig weiß, was wirklich passiert ist. Trotzdem möchte ich hier mal einen grundsätzlichen Punkt anbringen.
Bekanntlich (so steht es jedenfalls in der Wikipedia) wurde das Unbedenklichkeits-Gutachten für das Duisburger Gelände der Loveparade am Lehrstuhl für die Physik von Transport und Verkehr der Universität Duisburg-Essen erstellt. Auf der Webseite dieses Lehrstuhls liest man: “Beispielsweise ist Straßenverkehr physikalisch betrachtet ein granularer Strömungsprozeß, der konzeptionell eng verwandt ist mit dem Fluß granularer Materie (Sand, Tabletten, Getreide etc.) durch ein Rohr. Dabei hat der Stau seine Entsprechung in den Dichtewellen (“Verstopfungen”), die man bei Schüttgütern beobachtet. Auch andere Parallelen zwischen dem Fließverhalten granularer Materie und dem Verkehr, wie z.B. Selbstorganisation und Chaos, treten auf. Von großer Bedeutung für die Verfahrenstechnik sind z.B. die elektrostatische Aufladung granularer Materie und Transportvorgänge in Suspensionen. In beiden Fällen spielen langreichweitige Wechselwirkungen zwischen den Teilchen eine wesentliche Rolle, deren Gegenstück im Straßenverkehr die Kommunikation und Kopplung zwischen weiter entfernten Fahrzeugen ist. “
Vor 2 Jahren hatte sciencegarden unter der Überschrift “Wir sind berechenbar – Wie sich das Verhalten von Menschenmassen voraussagen lässt.” über die Arbeit der Verkehrs-Physiker berichtet.
Michael Schreckenberg (seit gestern als Autor des Unbedenklichkeits-Gutachtens in den Medien) wurde damals wie folgt zitiert:
“Panik ist ein Mythos”, sagt er, “Menschen handeln selbst in sehr bedrohlichen Situationen noch rational.” Den Zustand der Panik, bei dem sämtliche Sicherungen durchknallen, gebe es nicht. Es handele sich schlicht um Angst, was Hirnuntersuchungen im Kernspin-Tomographen bewiesen hätten.
Später im selben Artikel
“Der Mensch wird dabei quasi zu einem Teilchen, das nach bestimmten Eigenschaften und Wahrscheinlichkeiten agiert”, erklärt Dirk Helbings Mitarbeiter Prof. Anders Fredrik Johansson von der Technischen Hochschule Zürich. Eine seltsame Vorstellung, möchte man den Menschen doch als Individuum begreifen. Aber es funktioniert.
Unter dem Artikel finden sich Simulationen, wie 200 Menschen (punktförmige Teilchen) panikartig einen Raum verlassen.
Heute, nach dem Unglück, wird der Verkehrs-Physiker wie folgt zitiert:
Es gebe aber immer Menschen, die sich nicht an die Spielregeln hielten. Laut Schreckenberg hatten kurz vor dem Unglück einzelne Jugendliche ein Gitter überrannt und waren eine ungesicherte Treppe hochgelaufen. Einige von ihnen seien dann von der Treppe aus einer Höhe von acht bis zehn Metern nach unten gestürzt. Dass „Menschen von oben herunterfallen” sei ein Fall gewesen, der überhaupt nicht in dem Sicherheitsplan vorgesehen gewesen sei
Ja, wer konnte das auch vorhersehen, daß sich Teilnehmer einer solchen Massenveranstaltung nicht an die Spielregeln halten? Bei granularen Strömungsprozessen gibt es das doch auch nicht.
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