Im vorletzten Kapitel von “Wie Mathematiker ticken” geht es zum ersten Mal um Ruelles eigene Arbeiten und allgemeiner um die Rolle der “Mathematischen Physik” zwischen Mathematik und Physik.
Das große Buch der Natur ist laut Galilei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Zumindest lässt sich behaupten, dass Erforscher der physikalischen Welt, angefangen mit Galilei, es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Buch in die Sprache der Mathematik umzuschreiben. Auch Physiker sind in gewissem Sine Mathematiker. Manche Physiker benutzen allerdings sehr wenig Mathe. Andere, die sich selbst als mathematische Physiker bezeichnen, verwenden für ihre Erforschung des großen Buchs nicht-triviale Mathematik. Newton war zweifellos ein mathematischer Physiker. Auch Einstein beschrieb sich selbst als mathematischen Physiker. Später gab es eine Zeit Mitte des 20. Jahrhunderts, in der viele Physiker, darunter Richard Feynman, mit der Mathematik nichts zu tun haben wollten. Feynman verfügte allerdings über gute Kenntnisse der klassischen Mathematik, und das von ihm eingeführte Feynman-Integral ist ein fundamentaler Beitrag zur konzeptuellen Mathematik. Die Vertrautheit anderer Physiker mit der Mathematik hingegen erschöpfte sich häufig in “einer rudimentären Kenntnis des lateinischen und griechischen Alphabets”. Ihr großes Comeback in der Physik feierte die Mathematik Ende des 20. Jahrhunderts mit der populären String-Theorie, die zu wichtigen Entwicklungen in der reinen Mathematik geführt hat, mit dem großen Buch der Natur jedoch bislang nur sehr begrenzt in Verbindung steht. Heute werden unter dem Oberbegriff Mathematische Physik zahlreiche Fachartikel von Autoren veröffentlicht, die physikalisch nicht gut ausgebildet sind; diese Beiträge sind oftmals von etwas zweifelhaftem wissenschaftlichem Rang. Auf die Gefahr hin, auf Offensichtlichem herumzureiten, möchte ich betonen, dass Sinn und Zweck der Physik nicht darin bestehen, “nicht-triviale physikalische Theoreme” zu beweisen, sondern darin, mit jeder nur funktionierenden Methode das große Buch der Natur zu verstehen – und das kann auch die Entwicklung neuer mathematischer Theorien einschließen.
Ausgehend von den entdeckten grundlegenden Naturgesetzen (klassiche Mechanik und Gravitation von Newton und Einstein, Quantemechanik von Heisenberg und Schrödinger) “kann man heute im Prinzip fast alle beobachteten physikalischen Phänomene erklären” und versucht eine “Theorie von Allem” zu entwickeln, “mit der sich prinzipiell alle beobachteten physikalischen Phänomene erklären ließen”. Auch mit einer solchen Theorie würde aber die Physik nicht auf “nur noch Berechnungen” reduziert, weil es “konzeptuelle Problemstellungen gibt, die weit über die Entdeckung der Naturgesetze hinausgehen”. (Vergleichbar der Mathematik, wo die Klärung der fundamentalen Gesetze der Arithmetik noch nicht die Frage beantwortet, ob es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt.)
Emergentes Verhalten:
Wenn man das Verhalten von Wasser verstehen will (Phasenübergänge, Viskosität, Turbulenz), dann genügt es nicht, die Mechanik der Wassermoleküle zu verstehen. Es handelt sich um emergente Eigenschaften – nicht von einzelnen Molekülen, sondern im Limit von unendlich vielen (oder näherungsweise für genügend große Anzahlen).
Phasenübergänge (statistische Gleichgewichtsmechanik), Viskosität (statistische Nichtgleichgewichtsmechanik) und Turbulenz sind eigentlich Ruelles Arbeitsgebiet, aber in diesem Buch erklärt er natürlich nur relativ einfache Beispiele. Etwas ausführlicher diskutiert er ein von Boltzmann und Gibbs eingeführtes Wahrscheinlichkeitsmaß, das den Gleichgewichtszustand eines Systems vieler Teilchen beschreibt. An diesem Beispiel erläutert er die These, daß die Natur Hinweise auf gewisse Theoreme gibt (z.B. Verdopplung der Molekülzahl führt näherungsweise zu Verdopplung der Energie, was auf die Existenz extensiver Variablen hinweist), aber daß die Natur nicht deutlich sagt, unter welchen Bedingungen das Theorem zutrifft (z.B. zeigt stellares Gas kein thermodynamisches Verhalten: Kugelsternhaufen bilden keine Gleichgewichtszustände).
An einem anderen Beispiel erläutert Ruelle dann noch, daß physikalische Theorien auch wieder auf die Mathematik zurückwirken können. Er erklärt die statistische Gleichgewichtsmechanik eines Systems von Spins auf einem Gitter, insbesondere die Gibbs-Zustände, und wie diese von Sinai, Bowen und anderen zur Untersuchung der Dynamik von Diffeomorphismen auf Mannigfaltigkeiten genutzt wurden, speziell zur Untersuchung von Anosov-Diffeomorphismen durch symbolische Dynamik.
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