Alles hängt mit allem zusammen.
Chaostheorie, also die Erkenntnis, daß geringfügige Änderungen der Ausgangsbedingungen zu großen Änderungen eines Systems führen könne (der flügelschlagende Schmetterling, der einen Tornado auslöst), wird ja gerne als “Erklärung” genutzt für alles, was man nicht erklären kann oder nicht erklären möchte, bis hin zum vorgeblichen Beweis der Wirksamkeit der Homöpathie mittels Chaostheorie (z.B. in dieser Arbeit von Hock und Garner). Oft ist Chaos dabei nur ein Oberbegriff für die These, daß irgendwie “alles mit allem zusammenhänge”.
Eine Google-Suche nach “Chaos explains everything” liefert z.B. als dritten Treffer
Chaos theory is a rule involving anything in nature. In essence, it considers all data to be in infinite correlation, no matter how random the data may seem. In economics, it refers to the fact that market fluctuations and other such economic systems all have an underpinning correlation of data. In geography, it is the belief that if a butterly flaps its wings in one end of the world, it can cause a hurricane in another. In physics, its a tad more complicated. It states all subatomic and nucleonic particles are all united under ONE force, not gravity, but a very powerful force which holds the very essence of protons, electrons and neutrons together. It branches out into every facet of our existence. Infinite correlation, no probability.
Eigentlich eine tolle Ausrede für alle Arten von Prüfungen und Klassenarbeiten: wenn sowieso alles mit allem zusammenhängt, braucht man auch nichts mehr zu erklären. (Bei manchen “Anwendungen” der Chaostheorie wie dem oben verlinkten Homöopathie-Paper scheint dies auch die eigentliche Motivation der “Anwender” zu sein.)
Letzte Woche hatten wir über Anosov-Abbildungen geschrieben, als Beispiel für Chaos und Stabilität: einerseits chaotisch, denn die Bilder nah beeinander liegende Punkte sind im Verlauf der Zeit mal weit entfernt, mal nah beeinander, eben unvorhersehbar (siehe Bild unten), andererseits stabil, denn eine geringfügige Änderung des Systems führt zu einem topologisch äquivalenten System, das also im Prinzip dieselben Eigenschaften hat (“strukturelle Stabilität”).
Das Bild zeigt eine Anosov-Abbildung des Torus: f(x,y)=(2x+y,x+y)mod1
(Der Torus ist das Einheitsquadrat mit verklebten Kanten. Man muß sich die Abbildung so vorstellen, daß (x,y) auf (2x+y,x+y) abgebildet wird, danach aber die Bild-Punkte außerhalb des Einheitsquadrats durch eine Verschiebung mit Vektor (1,0) bzw. (0,1) wieder in das Einheitsquadrat verschoben werden, wie das Bild unten von https://www-chaos.umd.edu/misc/catmap.html zeigt.)
Anosov-Abbildungen sind chaotisch und strukturell stabil. Man könnte jetzt allerlei Vergleiche zu trendigen Themen anschließen. Alles hängt mit allem zusammen. Sind vielleicht auch das Hirn, das Klima, die Börse gleichzeitig chaotisch und strukturell stabil? Wird vielleicht die Funktionsweise des Gehirns oder der Klimawandel durch Anosov-Abbildungen beschrieben? (Vielleicht eher nicht, dafür sind die irgenwie zu glatt 🙂
Was es jedenfalls wirklich gibt, ist ein Zusammenhang zwischen der Katzenabbildung und den Faserungen von Knotenkomplementen, über die wir in TvF 120 und TvF 123 geschrieben hatten.
Die Kleeblattschlinge und der Achterknoten sind (die einzigen) gefaserten Knoten, bei denen die Seifert-Fläche ein Torus (mit Rand, d.h. ein Torus, aus dem eine Kreisscheibe ausgeschnitten wurde) ist. Seifert-Flächen waren die in den Knoten eingespannten Flächen aus TvF 118.
Ein Faserbündel über dem Kreis hat eine sogenannte Monodromie-Abbildung f der Faser F. (Dazu nächste Woche ausführlich. Anschaulich: zu einem Punkt x in der Faser betrachtet man die Kurve, die die “Hochhebung” des Basis-Kreises ist, der Endpunkt dieser Kurve ist f(x).)
Bei den Faserungen der Komplemente von Kleeblattschlinge und Achterknoten bekommt man als Monodromie also Abbildungen des Torus. Für den Achterknoten bekommt man dabei genau die oben gezeigte Katzenabbildung, also die einfachste Anosov-Abbildung.
Das einfachste Beispiel für Chaos und Stabilität beschreibt also auch die Topologie (des Komplements) des zweit-einfachsten Knotens.
Zumindest in der reinen Mathematik hängt tatsächlich alles irgendwie mit allem zusammen.
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