Der Abelpreis (mit gut 106 $ der höchstdotierte Mathematik-Preis) geht dieses Jahr an John Milnor.

Der Abelpreis
wird jährlich von der Norwegischen Akademie der Wissenschaften vergeben.

(Er gilt als eine Art Ersatz dafür, daß es keinen Nobelpreis für Mathematik gibt. Über die Gründe, warum Nobel keinen Mathematik-Nobelpreis stiftete, gibt es viele anekdotische Erklärungen, die aber nach allgemeiner Meinung alle in das Reich der Fabel gehören.)

Die Verleihung findet Ende Mai in Oslo statt.

John Milnor hat u.a. über Differentialtopologie, Algebraische K-Theorie und komplexe Dynamik gearbeitet.

Noch als Student im Grundstudium bewies er die Vermutung, daß jede verknotete Kurve Totalkrümmung > 4π hat. (Eine bekannte unter Mathematikern kursierende “urbane Legende” besagt, daß diese Vermutung in der Vorlesung an die Tafel geschrieben wurde, Milnor zu spät zur Vorlesung kam, die an der Tafel stehende Vermutung für eine Hausaufgabe hielt und sie zuhause löste. Dies entspricht aber nicht der Wahrheit, wie Milnor selbst kürzlich klarstellte.)

Danach beschäftigte er sich auch mit Spieltheorie, aber vor allem mit der damals in Enststehung begriffenen Differentialtopologie (Topologie differenzierbarer Mannigfaltigkeiten). Bekannt wurde er 1956 durch den Beweis, daß es 28 verschiedene differenzierbare 7-dimensionale Manigfaltigkeiten gibt, die jeweils homöomorph zur 7-dimensionalen Sphäre sind. Das war das erste Beispiel dafür, daß Mannigfaltigkeiten topologisch äquivalent sein können, obwohl die Differentialrechnung auf ihnen nicht äquivalent ist.
In späteren Arbeiten mit Kervaire entwickelte Milnor dann einen allgemeinen Ansatz, um die Anzahl der exotischen Sphären in beliebigen Dimensionen >4 zu bestimmen. (Tatsächlich konnten sie eine Formel für diese Anzahl angeben, deren genauer Wert aber von der Richtigkeit der Kervaire-Vermutung abhing. Diese Vermutung wurde, außer für Dimension 126, vor 2 Jahren bewiesen.)

Andere topologische Resultate aus dieser Zeit sind eine explizite Konstruktion universeller Bündel, eine Charakterisierung flacher Vektorbündel, der Prim-Zerlegungssatz für 3-Mannigfaltigkeiten, das Milnor-Svarc-Lemma über die Quasiisometrie zwischen Fundamentalgruppe und universeller Überlagerung eines kompakten Raumes, oder Gegenbeispiele zur Hauptvermutung, d.h. homöomorphe Simplizialkomplexe, die keine kombinatorisch äquivalenten Unterteilungen besitzen.

Arbeiten über quadratische Formen führten zur Definition der Milnor K-Theorie. Die Milnor-Vermutung über den Zusammenhang von Milnor K-Theorie mit Galois-Kohomologie bzw. Witt-Ring wurde in den 90er Jahren von Voevodski bewiesen, der in diesem Zusammenhang motivische Kohomologie entwickelte.

In den letzten 25 Jahren hat Milnor vor allem über komplexe Dynamik gearbeitet, z.B. über die Iteration kubischer Polynome.

Sehr bekannt ist Milnor auch durch seine Lehrbücher, in denen auf einmalige Weise Konzepte aus unterschiedlichen Teilgebieten der Mathematik passend zum jeweiligen Thema aufbereitet werden. Das Buch über Morse-Theorie zum Beispiel entwickelt nicht nur die Grundlagen der Morse-Theorie, sondern liefert auch einen Schnellkurs in Differentialgeometrie, Symmetrischen Räumen, Variationsrechnung auf dem Schleifenraum, allen Grundlagen, die gebraucht werden, um letztlich den morsetheoretischen Beweis des Bottschen Periodizitätssatzes, der die Homotopiegruppen von SU(n) oder SO(n) berechnet, zu bringen.
Andere Klassiker sind die Lehrbücher über charakteristische Klassen, den h-Kobordismensatz (mit Smales Beweis der höherdimensionalen Poincaré-Vermutung), Singularitätentheorie, symmetrische Bilinearformen oder “Topology from the differentiable view point”.

Die Begründung des Abelpreiskomitees:

All of Milnor’s works display marks of great research: profound insights, vivid imagination, elements of surprise, and supreme beauty.
Milnor’s discovery of exotic smooth spheres in seven dimensions was completely unexpected. It signaled the arrival of differential topology and an explosion of work by a generation of brilliant mathematicians; this explosion has lasted for decades and changed the landscape of mathematics.
With Michel Kervaire, Milnor went on to give a complete inventory of all the distinct differentiable structures on spheres of all dimensions; in particular they showed that the 7-dimensional sphere carries exactly 28 distinct differentiable structures. They were among the first to identify the special nature of four-dimensional manifolds, foreshadowing fundamental developments in topology.
Milnor’s disproof of the long-standing Hauptvermutung overturned expectations about combinatorial topology dating back to Poincaré. Milnor also discovered homeomorphic smooth manifolds with nonisomorphic tangent bundles, for which he developed the theory of microbundles. In three-manifold theory, he proved an elegant unique factorization theorem.
Outside topology, Milnor made significant contributions to differential geometry, algebra, and dynamical systems. In each area Milnor touched upon, his insights and approaches have had a profound impact on subsequent developments. His monograph on isolated hypersurface singularities is considered the single most influential work in singularity theory; it gave us the Milnor number and the Milnor fibration.
Topologists started to actively use Hopf algebras and coalgebras after the definitive work by Milnor and J. C. Moore. Milnor himself came up with new insights into the structure of the Steenrod algebra (of cohomology operations) using the theory of Hopf algebras. In algebraic K-theory, Milnor introduced the degree two functor; his celebrated conjecture about the functor — eventually proved by Voevodsky — spurred new directions in the study of motives in algebraic geometry. Milnor’s introduction of the growth invariant of a group linked combinatorial group theory to geometry, prefiguring Gromov’s theory of hyperbolic groups.
More recently, John Milnor turned his attention to dynamical systems in low dimensions. With Thurston, he pioneered “kneading theory” for interval maps, laying down the combinatorial foundations of interval dynamics, creating a focus of intense research for three decades. The Milnor−Thurston conjecture on entropy monotonicity prompted efforts to fully understand dynamics in the real quadratic family, bridging real and complex dynamics in a deep way and triggering exciting advances.
Milnor is a wonderfully gifted expositor of sophisticated mathematics. He has often tackled difficult, cutting-edge subjects, where no account in book form existed. Adding novel insights, he produced a stream of timely yet lasting works of masterly lucidity. Like an inspired musical composer who is also a charismatic performer, John Milnor is both a discoverer and an expositor.

Hier die Laudatio von Gowers mit einer (relativ) elementaren Darstellung des Arbeitsgebiets. Weitere populärwissenschaftliche Erklärungen hier.

Informationen zur Vorgeschichte des Abelpreises findet man hier. Die bisherigen Preisträger seit 2003 sind:
2003 Jean-Pierre Serre (Frankreich): Homotopietheorie, Algebraische Geometrie
2004 Michael Atiyah (GB), Isadore Singer (USA): Globale Analysis
2005 Peter Lax (USA): Partielle Differentialgleichungen, Streutheorie
2006 Lennart Carleson (Schweden): Harmonische Analysis, Dynamische Systeme
2007 Srinivasa Varadan (Indien): Wahrscheinlichkeitstheorie, Große Abweichungen
2008 Jacques Tits (Belgien), John Thompson (USA): Gruppentheorie
2009 Michael Gromov (Frankreich): Riemannsche und Symplektische Geometrie, Geometrische Gruppentheorie
2010 John Tate (USA): Algebraische Zahlentheorie, Elliptische Kurven

Kommentare (5)

  1. #1 Ketzu
    23. März 2011

    Die Urbane Legende gibt es in vielen Fachbereichen für Leute die schon im Studium große Probleme gelöst haben, so auch in der Theoretischen Informatik 🙂

  2. #2 rolak
    23. März 2011

    Bietet sich ja auch an, so eine schöne Geschichte weiterzustricken.
    Ein ganz klein wenig hätte ich in der Richtung (nicht ‘falsch’, sondern ‘Hausaufgabe’) im Angebot. In Logik&Berechenbarkeit bekamen wir einen Satz Aufgaben aus dem Spektrum (Grammatiken, Listenstrukturen über Alphabeten, …) mit der Maßgabe ‘an keiner Aufgabe mehr als zwei Stunden arbeiten’. Bei einer dieser Aufgaben ~”bei welchem Ausgangs-Term terminiert dieser Satz von Umformungsvorschriften?” war mir nach 2 Sekunden klar, daß das eine Arbeit für Bekloppte war – also wurde die Vorschrift und ein alle-Terme-(von einfach bis immer komplizierter)-Generator programmiert (insg 2h15′, akzeptabel),

    in muMATH, gibt es sowas eigentlich in frei? Hätte ich gerne wieder mal unter den Fingern und meine alte CP/M-Kiste läuft wenn überhaupt dann auf Krücken und die Floppys sind alle tot… tatsächlich^^, mal weiterforschen

    das Programm gestartet und ab in den Biergarten. Morgens lief es immer noch (war ein 4MHz Z80) aber es war ja auch noch Zeit. Aber auch am Tag des Abgabetermins meditierte der Rechner noch, also trug ich kackfrech ein ‘unlösbar, siehe Anhang’ ein, tackerte die muMATH-Quelle hintendran und ab dafür. Die Woche drauf, Vorlesung gerade zuende, da dreht der Prof sich wie weiland Columbo auf dem Weg nach draußen um und fragt: “Da hatte jemand behauptet, Aufgabe XY wäre unlösbar. Wer war das?” Schweißausbruch, es tat sich leider kein Loch unter mir auf, also gegen die gummiartigen Knie nach oben gedrückt *räusper* *räusper* “ärgks” (so klang das ‘ich gestehe’). Kam von unten “In der abgedruckten Form der Aufgabe stimmt das – und wir wundern uns seit Jahren, warum keiner auf die Lösung kommt…”
    🙂

  3. #4 Thilo
    23. März 2011

    Wegen der ‘urban legend’: die hat wohl einen realen Hintergrund, allerdings nicht mit John Milnor, sondern mit George Dantzig als Protagonisten: https://de.wikipedia.org/wiki/George_Dantzig#Leistungen

  4. #5 JanG
    25. März 2011

    Ich bin immer wieder begeistert und auch ein wenig voll des Neides was die Mathematiker so leisten. Im Studium (ich bin Experimentalphysiker) war dieses Fach für mich stets ein Quell der Mühe, nur als ich mich (sehr intensiv) auf meine Zwischenprüfung in Mathematik vorbereitete, hatte ich immer mal wieder “Momente der Erkenntnis”. Ich kann es nicht anders sagen, aber es waren Momente wo ich die Schönheit dieser Wissenschaft zu sehen glaubte (zum Beispiel als ich bei der Beschäftigung mit der Funktionentheorie feststellte, dass es eine Verbindung zur Laplace-Gleichung und damit zum Gebiet der partiellen Differentialgleichungen gibt).

    Dass es nun Menschen gibt, die derart in dieser Wissenschaft zu Hause sind und diese Schönheit wirklich begreifen, ist beneidenswert.

    btw: auch an dieser Stelle ein riesen Dank für die Serie “Topologie von Flächen”. Die lese ich sehr gern da sie einfach mal ein sehr schönes Gebiet der Mathematik für mich (größtenteils) verständlich macht.