Obskures aus Forschung und Wissenschaft
Zu den angenehmen Seiten des Bloggens gehört, daß man gelegentlich kostenlose Rezensionsexemplare neuer Bücher von Verlagen zugeschickt bekommt. (Momentan liegen fünf zu besprechende Bücher bei mir zuhause, wobei die anderen vier deutlich mehr mit Mathematik zu tun haben als das heute zu besprechende.)
“9 Millionen Fahrräder am Rande des Universums” ist eine Sammlung von hundert zwei- bis drei-seitigen Kommentaren aus den letzten 10 Jahren. Sozusagen eine Art “Wissenschaftsfeuilleton”, aber gründlich durchdacht und auch kenntnisreich, zwischen kritischen Anmerkungen wird immer wieder portionsweise Fachwissen vermittelt, nicht nur aus Chemie und Biologie. Die Beiträge sind aus den letzten 10 Jahren, aber vieles ist trotz der wissenschaftlichen Entwicklungen völlig zeitlos, wenn etwa unter der Überschrift “Chemie-Olympiade” darüber berichtet wird, wie “auf beiden Seiten Forscherteams mit viel Kreativität daran [arbeiten], unrealistische Erwartungen zu erfüllen (einerseits neue Rekorde, andererseits sauberer Sport)”, oder in “Werden wir bald entbehrlich?” über die automatisch erzeugten Bücher von Philip Parker zu Themen wie “The 2007 import and export market for household refridgerators in Czech Republic”. oder in “Das erste Mammut” über das am 6.12.2036 geborene erste geklonte Mammut..
Die erwähnten Beispiele stammen alle aus dem ersten Abschnitt “Fortschritt und Rückschläge der Technik”. Der zweite Abschnitt “Menschliches, Allzumenschliches, Zwischenmenschliches” widmet sich allem, was in weitem Sinne mit dem Funktionieren unseres Gehirns zu tun hat, etwa der konservativierenden Wirkung des Alkoholkonsums (“Konservativ oder konserviert?”), und im dritten Abschnitt “Forschung in guter und schlechter Gesellschaft” geht es um den Wissenschaftsbetrieb und die Forschungspolitik, um Uni-Rankings und Rechtschreibreform, und auch um Kreationismus, Astrologie und Milzbrandbriefe.
Der Autor schreibt eine regelmäßige Kolumne in “Nachrichten aus der Chemie” (das ist die Mitglieder-Zeitschrift der GDCh), in der er (nach eigener Darstellung als “Hofnarr”) aktuelle Ereignisse kommentiert.
Die aus dieser Kolumne stammenden Beiträge überwiegen im ersten Drittel des Buches, dazu kommen ähnliche Artikel, die ursprünglich in verschiedenen Publikationen des Spektrum-Verlags veröffentlicht wurden und einige wenige bisher unveröffentlichte Kommentare.
Einer der vorher unveröffentlichten Beiträge (der aber vom Guardian in gekürzter Form als Leserbrief abgedruckt worden war) hat dem Buch den Namen gegeben: Neun Millionen Fahrräder am Rande des Universums.
Es geht um den gleichnamigen Titel von Katie Melua
und die Textzeile
“We are 12 billion ligt years from the edge
That’s a guess
No one can ever say it’s true
But I know that I will always be with you”
Kaum war die Single in den Charts aufgetaucht, da beschwerte sich Simon Singh in der Tageszeitung The Guardian lautstark und sehr humorlos über Katie Meluas “tiefgreifende Unwissenheit in Kosmologie und fehlendes Verständnis der wissenschaftlichen Methode.” In Wirklichkeit, so Singh ist “the edge”, also der Rand des von uns beobachtbaren Universus, nämlich 13,7 Milliarden Lichtjahre entfernt. Weil die Kosmologen berechnet haben, dass das Universum genau 13,7 Milliarden Jahre alt sei. Und das sei ein mit höchster Genauigkeit ermitteltes Messergebnis und keineswegs “geraten”.
Obwohl ich die dynamischeren Klänge einer Shakira oder Alanis Katies Kuscheltönen vorziehe, muss ich hier die Popsängerin gegenüber den Vorwürfen meines Kollegen in Schutz nehmen. Vielleicht haben Melua und Batt sich ja sehr genau mit den Erkenntnissen der Kosmologen auseinander gesetzt. Dann haben sie sicherlich in Erfahrung gebracht, dass in der heute allgemein anerkannten Beschreibung unseres Universums eine überaus peinliche Lücke von 96% klafft. Die Masse und Energie, die wir physikalisch erklären können, macht lediglich 4% der Masse und Energie aus, die vorhanden sein muss, damit sich das Universum als Ganzes so verhält, wie wir es beobachten.
Diese Fehlbeträge nennt man dunkle Materie und dunkle Energie. Woraus diese beiden Komponenten bestehen könnten, dazu gibt es jede Menge Theorien, aber keine schlüssigen Erklärungen. Mich würde es nicht überraschen, wenn aus jener 96%igen Dunkelheit neuartige physikalische Zusammenhänge auftauchen, aufgrund derer wir die gesamte Kosmologie, einschließlich des Alters unseres Universums, womöglich neu schreiben müssen.
Problematischer finde ich den Pessimismus in der vorletzten Zeile des Zitats. […]
Wieder was gelernt …
MICHAEL GROß
9 Millionen Fahrräder am Rande des Universums
Obskures aus Forschung und Wissenschaft
ISBN 978-3-527-32917-5
2011
308 Seiten, 20 Abb., Gebunden
€ 24,90
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