Nüsse knacken durch Aufweichen.

Wenn man Walnüsse knacken will, sollte man sie vorher einige Tage in heißem Wasse aufweichen – das wird das Knacken der Nüsse erheblich erleichtern.
Ähnlich funktioniert es oft in der Mathematik – statt ein Problem direkt zu knacken, weicht man es auf: man entwickelt eine allgemeine Theorie, aus der sich das Problem dann als einfacher Spezialfall ergibt.

Der Jordansche Kurvensatz: Jede geschlossene Kurve zerlegt die Ebene in zwei Gebiete (ein Inneres und ein Äußeres).

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britton.disted.camosun.bc.ca/jbjordan.htm

Letzte Woche hatten wir etwas über die Historie von Jordans ursprünglichem Beweis geschrieben. (Und in TvF 166 hatten wir Thomassen’s Beweis erwähnt, daß der Jordansche Kurvensatz äquivalent zum Satz von Kuratowski.)

Eigentlich lernt man aber heute in den Topologie-Büchern keinen dieser (elementaren, aber schwierigen und aufwändigen) Beweise, sondern einen sehr viel kürzeren Beweis, der allerdings “Homologietheorie” benutzt.

Wegzusammenhangskomponenten

Zunächst, um das Problem (die Aussage des Jordanschen Kurvensatzes) formal zu fassen, braucht man den Begriff der Wegzusammenhangskomponenten eines Raumes X.
Definition: Zwei Punkte x,y aus X gehören zur selben Wegzusammenhangskomponente, wenn sie sich durch einen stetigen Weg verbinden lassen, d.h. wenn es eine stetige Abbildung f:[0,1]–>X mit f(0)=x, f(1)=y gibt.

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Zwei Punkte in derselben Wegzusammenhangskomponente.

Die Aussage des Jordanschen Kurvensatzes, präzise formuliert, ist dann: wenn K eine geschlossene Kurve in der Ebene R2 ist, dann hat X:=R2-K genau zwei Wegzusammenhangskomponenten.

Nullte Homologie

Diese Behauptung möchte man nun aufweichen, also eine allgemeine (kompliziertere) Theorie entwickeln, aus der sich der Jordanscher Kurvensatz dann auf einfache, natürliche Weise als direkte Folgerung ergibt.

Die folgende Konstruktion sieht vielleicht etwas abstrakt oder künstlich aus, aber sie ist als Spezialfall einer allgemeineren Theorie letztlich sehr nützlich:

Für einen Raum X betrachten wir alle formalen Summen a1x1+…+anxn, wobei x1,…,xn Punkte in X und a1,…,an ganze Zahlen sind. Solche formalen Summen von Punkten nennt man 0-Ketten. Die Menge der 0-Ketten ist eine abelsche Gruppe (man kann zwei 0-Ketten auf die offensichtliche Weise addieren), die man C0(X) nennt.

Für einen 1-dimensionalen Weg e:[0,1]—>X ist der Rand δe=e(1)-e(0). Für eine formale Summe 1-dimensionaler Wege s=a1e1+…+anen (eine sogenannte 1-Kette) definiert man dann ihren Rand als δs=a1δe1+…+anδen. (Der Rand ist also eine formale Summe von Punkten, d.h. eine 0-Kette. Bezeichnen wir mit C1(X) die Menge der 1-Ketten, dann haben wir eine Abbildung δ:C1(X)—>C0(X) definiert.)

Man sagt dann, daß zwei 0-Ketten a1x1+…+anxn und b1y1+…+bnyn homolog sind, wenn ihre Differenz Rand einer 1-Kette ist, also wenn es eine 1-Kette s mit δs=(a1x1+…+anxn) – (b1y1+…+bnyn) gibt.

Und die 0-the Homologiegruppe H0(X) des Raumes X ist, per Definition, die Menge der 0-Ketten modulo homologie, d.h. H0(X)=C0(X)/δ(C1(X)).

Soweit scheinbar eine sehr abstrakte Konstruktion, aber man kann leicht erklären, was sie anschaulich bedeutet:
wenn man zwei Punkte x1 und x2 in derselben Wegzusammenhangskomponente des Raumes X nimmt, dann sind sie homolog, denn der sie verbindende Weg e erfüllt ja geradeδe=x2-x1;
wenn ich also Punkte x1, …, xn in derselben Wegzusammenhangskomponente habe, dann ist a1x1+…+anxn homolog zu (a1+…+an)x1, denn jedes xi ist ja homolog zu x1.
Ergo kann ich zu jeder Wegzusammenhangskomponente einen Punkt fest wählen und bekomme dann, daß jede 0-Kette homolog zu einer Summe (ganzzahliger Vielfacher) dieser festgewählten Punkte ist.
Wenn der Raum d Wegzusammenhangskomponenten hat, dann ist also jede Homologieklasse von 0-Ketten bestimmt durch d ganze Zahlen – H0(X) ist also isomorph zu Zd.

Also: die 0-te Homologie zählt gerade die Anzahl der Wegzusammenhangskomponenten – man hat H0(X)=Zd genau dann, wenn X d Wegzusammenhangskomponenten hat.

Die Behauptung des Jordanschen Kurvensatzes läßt sich dann so umformulieren: für jede geschlossene Kurve K in der Ebene R2, und X:=R2-K, ist H0(X)=Z2.

Mit dieser Umformulierung hat man natürllich noch nichts gewonnen, aber man kann den Satz jetzt in eine allgemeine Theorie einbetten und versuchen, ihn als Spezialfall allgemeinerer Sätze zu beweisen. Dazu nächste Woche.


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Kommentare (7)

  1. #1 Freddy
    28. Mai 2011

    Sehr interessant!

    Ich habe nur nicht ganze verstanden wieso der Rand δe=e(1)-e(0) ist? Ich hätte gedacht der Rand einer Kurve wären die beiden Endpunkte?

    Meine andere Frage wäre (wahrscheinlich ziemlich bescheuerte Frage), muss d ganzzahlig sein? Ich kann mir zwar keinen Fall vorstellen bei dem d nicht ganzzahlig wäre, aber existiert sowas?

  2. #2 Freddy
    28. Mai 2011

    Also, meine Frage wär, wieso der Rand nicht δe={ e(1), e(2) } ist?

  3. #3 Freddy
    28. Mai 2011

    e(0) und e(1) mein ich natürlich… .SB braucht wirklich mal ne Edit funktion 🙂

  4. #4 JLN
    28. Mai 2011

    @Freddy: der Rand selbst ist tatsächlich die Menge der beiden Endpunkte. Der homologische Randoperator gibt aber die Differenz der Randpunkte aus. Das hat zur Folge, dass für die Intervalle [x,y] und [y,z] gilt dass delta([x,y] u [y,z])=delta([x,z])=x-z=(x-y)+(y-z)=delta([x,y])+delta([y,z]). (u soll hier die Vereinigung von Mengen sein).

    Es gibt auch Homologietheorien mit anderen Koeffizienten als den ganzen Zahlen. Die reellen Zahlen sind da durchaus denkbar. Üblicher sind die reellen Koeffizienten aber in der Kohomologietheorie (gewissermassen ein Spiegelbild der Homologietheorie), dort gibt es eine ganz eigene Interpretation der Ketten, die mit der Vektoranalysis zu tun hat. Das nennt man dann de Rham-Kohomologie.

  5. #5 Thilo
    28. Mai 2011

    Ja, man muß das einfach so als Definition nehmen, daß der Rand die Differenz (und nicht etwa die Summe) der Randpunkte ist. Andernfalls würde die Theorie so nicht funktionieren, vor allem wenn man dann später höhere Homologiegruppen definieren will.
    (Für die nullte Homologiegruppe würde man statt Z^d dann (Z/2Z)^d bekommen, wenn man den Rand als Summe definiert. Das wäre vielleicht noch nicht so schlimm, denn z.B. die Anwendung auf den Jordanschen Kurvensatz würde ja noch funktionieren. Aber bei den höheren Homologiegruppen spielt die Orientierung des Randes schon eine Rolle, bereits bei ihrer Definition.)
    Anschaulich sollte man sich die Vorzeichen als Orientierung des Randes vorstellen. Also, wenn man eine Orientierung des Weges von e(0) nach e(1) hat, dann geht der Weg im einen Endpunkt hinaus und im anderen Endpunkt hinein und daraus ergibt sich das Vorzeichen.

  6. #6 Thilo
    28. Mai 2011

    Zur anderen Frage: ja, die Anzahl der Wegzusammenhangskomponenten ist eine Anzahl, also eine ganze Zahl. (Das hat nichts mit der Dimension zu tun, die auch oft mit d bezeichnet wird, und die bei Fraktalen keine ganze Zahl ist.)

  7. #7 Freddy
    30. Mai 2011

    Danke vielmals!