Nüssen beim Aufweichen zuschauen – Gäähn. (Homologietheorie.)

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britton.disted.camosun.bc.ca/jbjordan.htm

In den letzten Wochen ging es um den Jordanschen Kurvensatz, also daß jede geschlossene Kurve K (wie im Bild oben) die Ebene R2 in 2 Teile zerlegt. Für diese Tatsache gibt es komplizierte elementare Beweise, aber auch einen sehr kurzen Beweis, der freilich verschiedene Eigenschaften der sogenannten Homologietheorie benutzt. (Letzte Woche hatten wir erklärt, was der Jordansche Kurvensatz mit der nullten Homologie von R2-K zu tun hat.)

In der bekannten Analogie mit den Nüssen, die man entweder knacken oder tagelang aufweichen kann, entspricht der zweite Zugang dem langwierigen Aufweichen, durch welches das eigentliche Knacken dann sehr schnell und einfach geht.

Wenn man in der Mathematik mit Homologietheorien arbeitet, um topologische Probleme zu lösen, dann benutzt man meistens nur die Eigenschaften der Homologiegruppen und muß ihre ursprüngliche Definition gar nicht unbedingt kennen. Also: man weiß, daß es eine Theorie gibt, die bestimmte Eigenschaften hat (die sogenannten Eilenberg-Steenrod-Axiome) und aus diesen “Axiomen” kann man dann alles ausrechnen oder beweisen, was man ausrechnen oder beweisen möchte. Oder in obiger Analogie: man macht sich zunutze, daß die Nüsse schon vor langer Zeit (von anderen Leuten) ins Wasser gelegt wurden und man jetzt keinen Nußknacker mehr braucht.

Wir werden nächste Woche zeigen, wie man aus den Eigenschaften der Homologietheorie leicht den Jordanschen Kurvensatz folgern kann. Heute werde ich aber zunächst kurz die Definition der Homologiegruppen skizzieren und nächste Woche dann diejenigen Eigenschaften der Homologiegruppen auflisten, aus denen dann der Beweis des Jordanschen Kurvensatzes in wenigen Zeilen folgt. (Ich werde natürlich nicht beweisen, daß die Homologiegruppen die gewünschten Eigenschaften haben – die Beweise sind zwar nicht übermäßig schwierig, aber sie stehen schließlich in jedem Lehrbuch zur Algebraischen Topologie in voller Ausführlichkeit.) Falls man nicht an Details interessiert ist und nur sehen will, wie sich letztlich eine komplizierte Nuss in aufgeweichtem Zustand leicht knacken läßt, kann man die Definition der Homologiegruppen auch überspringen und gleich (d.h. im Beitrag von nächster Woche) sich den Beweis des Jordanschen Kurvensatzes anschauen.

Definitionen

Bei der Definition von “singulärer Homologie” arbeitet man mit Simplizes: das sind Punkte, Strecken, Dreiecke, Tetraeder (und analog in höheren n Dimensionen, die wir hier für den Beweis des Jordanschen Kurvensatzes aber gar nicht benötigen werden, wären es die von n+1 Punkten aufgespannten konvexen Körper):

Der Rand eines n-dimensionalen Simplex besteht jeweils aus n+1 Simplizes der nächstkleineren Dimension. Aus Gründen, die sich später als sinnvoll erweisen, definiert man den Rand des Simplexes als Summe dieser Randsimplizes mit wechselnden Vorzeichen. Also den Rand des Dreiecks (abc) als formale Summe δ(abc):=(bc)-(ac)+(ab) aus den drei Strecken im Rand des Dreiecks, oder den Rand des Tetraeders (abcd) als δ(abcd):=(bcd)-(acd)+(abd)-(abc).

Wenn man jetzt irgendeine Fläche F (oder auch irgendeinen anderen Raum) hat, dann besteht die n-te Kettengruppe Cn(F) von F aus den formalen Summen von Simplizes in F (sogenannten Ketten), also aus Summen a1σ1+…+ akσk mit ganzen Zahlen a1,…,ak und Simplizes σ1,…,σk.
(Mit einem Simplex in F ist eine stetige Abbildung des Simplexes nach F gemeint. Der Simplex muß nicht eingebettet sein, er kann sich also selbst schneiden, kreuzen oder z.B. kann der ganze Simplex auf denselben Punkt abgebildet werden.)
Dann hat man (für jedes n) eine Randabbildung δ:Cn(F)—->Cn-1(F) definiert durch δ(a1σ1+…+ akσn):=a1δσ1+…+ akδσn.
Ein Zykel ist dann eine Kette z mit δz=0:

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Der 1-dimensionale Zykel im Bild oben ist selbst ein Rand, nämlich der Rand der Summe von Dreiecken, die er anschaulich “berandet”.
Man kann leicht nachrechnen, daß jeder Rand ein Zykel ist. (Bei dieser Rechnung benutzt man, daß wir den Rand mit wechselnden Vorzeichen definiert hatten. Ohne Vorzeichen würde es nicht funktionieren.)

In der Ebene ist, wie es das Bild oben nahelegt, auch umgekehrt jeder Zykel ein Rand. Auf komplizierteren Flächen muß das aber nicht der Fall sein. Im Bild unten ist der abgebildete 1-dimensionale Zykel a auf dem Torus kein Rand, ebenso wenig wie b oder auch wie 2a oder wie die Summe a+b

Daß es auf dem Torus, im Gegensatz zur Ebene, 1-dimensionale Zykel gibt, die kein Rand sind, hat offensichtlich mit der Topologie (also mit den Löchern) des Torus zu tun.

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Kommentare (4)

  1. #1 Freddy
    3. Juni 2011

    Wieso…. wieso… wieso steht es in den Büchern immer so verdammt kompliziert, wenns auch “einfach” geht?

    Ein Buch im Stil deiner Blog einträge wäre sehr schön finde ich.

    Erinnert mich stark an eines meiner Lieblingsbücher, “Visual Complex Analysis” von Tristan Needham

  2. #2 Daniel
    22. Mai 2015

    Vielen Dank für deine interessanten Artikel über algebraische Topologie! Sie sind nicht nur unterhaltsam, sondern erklären auf einfache Weise schwierige Zusammenhänge.
    Ich persönlich nutze die Artikel zur Vor-/Nachbereitung einer entsprechenden Vorlesung.
    In dem Artikel ist ein Schreibfehler:
    “Wir definieren nun: sei n eine natürliche Zahl, Zn(F) die Gruppe der 1-dimensionalen Zykel in F und Bn(F) die Untergruppe der n-dimensionalen Ränder in F, dann ist die n-te Homologie Hn(F) definiert als Quotientengruppe Hn(F):=Zn(F)/Bn(F).”
    Es sollte wahrscheinlich n-dimensionale Zyklus heißen.
    Nichtsdestotrotz wunderbare Arbeit!

  3. #3 Daniel
    22. Mai 2015

    Pardon!
    Ich meine natürlich “Zykel” nicht “Zyklus”.

  4. #4 Thilo
    22. Mai 2015

    Ja danke, ich habe es jetzt korrigiert.