In Nature erscheint heute ein Artikel “The Unplanned Impact of Mathematics”.
Peter Rowlett hat sieben Mathematikhistoriker nach den ihrer Meinung nach überraschendsten1 Anwendungen reiner Mathematik gefragt.
1 Überraschend insofern, daß die Erfinder der jeweiligen mathematischen Konzepte diese Anwendungen sicherlich nicht vorhergesehen haben.
Quaternionen
Die Quaternionen haben es vermutlich deshalb an die erste Stelle gebracht, weil sie für den Erstsemester das Standardbeispiel einer künstlichen, anwendungsfernen Theorie sind. Während sich bei komplexen Zahlen recht schnell erschließt, wozu man sie zum Beispiel bei der Beschreibung von Schwingungen oder dem Lösen kubischer Gleichungen braucht, sehen die Quaternionen erstmal wie eine Erfindung von Algebraikern aus. Das sind sie allerdings schon historisch nicht gewesen, denn sie dienen in der Geometrie zur Beschreibung von Rotationen. In heutiger Sprache: die Gruppe der Einheitsquaternionen (Quaternionen der Länge 1) ist isomorph zu SU(2) und es gibt eine 2-fache Überlagerung von SU(2) zur Drehgruppe SO(3). Jede Drehung läßt sich also durch zwei Quaternionen beschreiben. Es ist eigentlich nicht überraschend, daß solche Formeln für 3-dimensionale Drehungen in der Computerspiele-Entwicklung gebraucht werden und insofern würde ich dieses Beispiel nicht wirklich als eine unerwartete Anwendung bezeichnen 🙂
Semi-Riemannsche Mannigfaltigkeiten
Das zweite Beispiel ist Riemanns Habilitationsvortrag, in dem er das Konzept der Riemannschen Mannigfaltigkeiten entwickelte. Daraus entwickelte sich die Semi-Riemannsche Geometrie (Levi-Civita-Zusammenhang, Ricci-Krümmung, …) ohne die Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie nicht hätte entwickeln können.
E8-Gitter
Bei der Kepler-Vermutung geht es bekanntlich um die effektivsten Kugelpackungen im 3-dimensionalen Raum. Insbesondere stellt sich dabei die Frage nach der maximalen Anzahl von Kugeln mit gleichem Radius, die in Kontakt mit einer mitteren Kugel gebracht werden können. Wenn man, was zunächst esoterisch erscheint, die 8-dimensionale Version der Kepler-Vermutung untersucht, dann stößt man auf das E8-Gitter, das mindestens unter den gitterförmigen Packungen (und vermutlich unter allen) die effektivste 8-dimensionale Kugelpackung ergibt. Dieses Gitter wurde bei der Konstruktion von Modems verwendet: man denkt sich die zu übertragenden Signale durch Punkte in einem 8-dimensionalen Raum repräsentiert, wegen des Rauschens muß es jeweils eine Kugel um jeden Signal-Punkt geben, der keinen anderen Signal-Punkt enthält, und das möchte man dann eben möglichst effektiv machen – mit dem E8-Gitter.
Spieltheorie
Das Parrondo-Paradox ist eine Konstruktion aus der Spieltheorie: “Given two games, each with a higher probability of losing than winning, it is possible to construct a winning strategy by playing the games alternately.” Die Erwähnung im Nature-Artikel geht auf Parrondo selbst zurück und er nennt als Anwendungen die Modellierung von Infektionskrankheiten, wenn die Kombination chaotischer Systeme eine nicht-chaotische Dynamik ergäbe.
Wahrscheinlichkeitstheorie
Eine weitere, nicht wirklich überraschende, Anwendung betrifft das Gesetz der großen Zahlen: je mehr Policen eine Versicherung verkauft, desto sicherer kann sie davon ausgehen, daß die tatsächlichen Schadensfälle den berechneten Wahrscheinlichkeiten entsprechen, desto geringer ist also ihr Risiko.
Topologie
Es werden dann auch verschiedene Anwendungen der Topologie erwähnt. Die vielleicht überzeugendste ist der Zusammenhang zwischen Knotentheorie und DNS: Enzyme wirken auf DNS-Strängen, indem sie diese verknoten.
Fourier-Reihen
Trigonometrische Funktionen spielten natürlich schon immer eine große Rolle in physikalischen Anwendungen, besonders durch ihre Rolle in der Fourier-Theorie. Die mathematischen Probleme der Fourier-Theorie führten letztlich zur Entwicklung von funktionalanalytischen Konzepten wie dem Hilbertraum, der sich dann in den 20er Jahren als der richtige mathematische “Untergrund” für die Quantenmechanik erwies – und diese wiederum ist die Grundlage für fast alle modernen Technologien.
Quelle: “The Unplanned Impact of Mathematics”. (erfordert Abonnement).
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