Komplexe Atlanten

Vorletzte Woche hatten wir über den ‘klassischen’ elementar-topologischen Beweis der Klassifikation von Flächen geschrieben und letzte Woche über einen ‘fortgeschritteneren’ kürzeren Beweis der Klassifikation von Flächen, bei dem Homologiegruppen und speziell (für den ‘Induktionsanfang’, daß jede orientierbare Fläche mit Χ(S)=2 eine Sphäre ist) der Satz von Riemann-Roch benutzt wurden. (Der Beweis ging i.W. so, daß es wegen Riemann-Roch eine bi-holomorphe Funktion f:S–>CP1 geben muß, insbesondere einen Homöomorphismus zur 2-Sphäre.)
Dabei hatten wir implizit vorausgesetzt, daß man auf einer orientierbaren Fläche eine ‘komplexe Struktur’ hat, d.h. holomorphe (komplex differenzierbare) Funktionen definieren (und auf diese dann den Satz von Riemann-Roch anwenden) kann. Der Vollständigkeit halber wollen wir heute noch nachtragen, was eine komplexe Struktur genau ist und dann nächste Woche begründen, warum jede orientierbare Fläche eine komplexe Struktur hat.

Für Funktionen auf der Ebene (oder auf einer offenen Teilmenge der Ebene) weiß man aus Analysis III (?) natürlich, was komplexe Differenzierbarkeit (“Holomorphie”) bedeutet: es gibt eine Definition von komplexer Differenzierbarkeit für Funktionen f:C–>C, und wenn man R2 mit der komplexen Zahlenebene C identifiziert, dann kann man sich leicht überlegen, daß eine (reell differenzierbare) Funktion f:R2–>R2 genau dann komplex differenzierbar ist, wenn die Cauchy-Riemann-Gleichungen gelten.

Wie überträgt man diese Definition auf Flächen?

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Die Definition einer Fläche (2-dimensionalen Mannigfaltigkeit) war ja, daß sie sich durch Karten wie im Bild oben überdecken läßt.

Die Karten liefern lokale Koordinaten, in denen man rechnen kann. Zum Beispiel kann man definieren: eine Funktion auf der Fläche ist differenzierbar, wenn sie in den durch die Karten gegebenen lokalen Koordinaten differenzierbar ist. Damit diese Eigenschaft unabhängig von der gewählten Karte ist, müssen die Kartenübergänge zwischen verschiedenen Karten differenzierbar sein. Man braucht also einen differenzierbaren Atlas, um auf der Fläche Differenzierbarkeit von Funktionen definieren zu können.

Der englische Wikipedia-Artikel über differenzierbare Mannigfaltigkeiten hat ein Beispiel von Karten, deren Kartenübergänge nicht differenzierbar sind (zu erkennen an der Ecke des nördlichen Wendekreises)

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Ein noch einfacheres, 1-dimensionales, Beispiel von nicht-kompatiblen Karten wäre R1, einmal mit der Karte φ1:R1–>R1 gegeben durch φ1(x)=x, und einmal mit der Karte φ2:R1–>R1 gegeben durch φ2(x)=x für x≤0 und φ2(x)=2x für x≥0. Diese beiden Karten sind nicht kompatibel (φ2φ1-1 ist nicht differenzierbar), allerdings gibt es (ebenso wie auch für das oben abgebildete 2-dimensionale Beispiel) einen Homöomorphismus, der die eine Differentialstruktur in die andere überführt. (In höheren Dimensionen gibt es aber tatsächlich Beispiele von Mannigfaltigkeiten mit unterschiedlichen Differentialstrukturen, wie wir in TvF 160 mal erwähnt hatten.)

Ähnlich ist es mit der Orientierbarkeit von Flächen, über die wir in TvF 11 geschrieben hatten. Um auf einer Fläche ‘links und rechts’ definieren zu können, braucht man einen orientierbaren Atlas, d.h. einen Atlas, dessen Kartenübergänge orientierungs-erhaltend sind. Dann kann man Orientierungen auf der Fläche definieren mittels der Karte als die entsprechenden Orientierungen der Ebene.
Ein Beispiel einer nicht-orientierbaren Fläche war das Möbiusband: Wenn die Ameise das Band einmal umlaufen hat, befindet sie sich wieder an derselben Stelle (und blickt in dieselbe Richtung), aber die linke Körperhälfte zeigt jetzt in die ursprünglich rechte Raumrichtung. Die ursprünglichen Beziehungen Links-Rechts sind entgegengesetzt zu den neuen.

Und analog definiert man auch die komplexe Differenzierbarkeit: die 2-dimensionalen Karten, deren Bilder in der Ebene R2 liegen, kann man ja auch als Karten mit Bild in der komplexen Zahlenebene auffassen, man bekommt also komplexe (1-dimensionale) lokale Koordinaten, und um die komplexe Differenzierbarkeit von Funktionen – unabhängig von der gewählten Karte – definieren zu können, braucht man, daß die Kartenübergänge komplex differenzierbar sind.
Einen solchen Atlas mit komplex differenzierbaren (d.h. holomorphen) Kartenübergängen nennt man eine komplexe Struktur, eine Fläche mit einer komplexen Struktur nennt man Riemannsche Fläche. (Nicht zu verwechseln mit Riemannschen Mannigfaltigkeiten.)

Also: eine komplexe Struktur ist ein Atlas, dessen Kartenübergänge komplex differenzierbar sind. Die Behauptung, die wir im Beweis letzte Woche implizit benutzt hatten, läßt sich also so formulieren: wenn es auf einer Fläche einen Atlas mit orientierungserhaltenden Kartenwechseln gibt, dann gibt es sogar einen Atlas mit komplex differenzierbaren Kartenwechseln. Zum Beweis dieser Behauptung (der aus allgemeinen Prinzipien der Bündel-Theorie folgt) nächste Woche.

Kommentare (1)

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