Alles ist möglich und nichts kann berechnet werden?
Im Rahmen des “International Congress of Mathematical Education” gab es heute einen Hauptvortrag von Etienne Ghys über den Schmetterlingseffekt.
(Ghys arbeitet z.Zt. mit Leys und Alvarez an einem Film über “Chaos”, der im September herauskommen soll.)
Der Schmetterlingseffekt – der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien könne einen Wirbelsturm in Texas auslösen (oft auch mit anderen Ländern erzählt, bemerkenswerterweise immer mit Schmetterlingen in Entwicklungsländern und Wirbelstürmen in Industrieländern) – ist wohl die erfolgreichste Metapher der Wissenschaftsgeschichte und gleichzeitig auch die am häufigsten mißverstandene und falsch verwendete.
Vom Werbevideo einer Versicherung
bis zu Andy Andrews’ Erbauungsliteratur “The Butterfly Effect – How Your Life Matters”
muß der Schmetterlingseffekt immer wieder als Beleg für Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit herhalten. In Wirklichkeit jedoch läßt sich das Chaos durchaus mathematisch fassen – und darum ging es mit einem 60-minütigen Crashkurs durch die Wissenschaftsgeschichte in Ghys’ Vortrag, den ich im folgenden zusammenzufassen versuche.
Die Geschichte beginnt natürlich mit dem Determinismus, wie er sich etwa in der Newtonschen Mechanik ausdrückt. Laplace brachte das auf den Punkt, daß “eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen”, Zukunft und Vergangenheit klar berechnen könne. Weil wir über diese Intelligenz aber nicht verfügen, so Laplace, brauchen wir Wahrscheinlichkeitsrechnung, um zumindest zu annähernd sicheren Aussagen über die Zukunft zu kommen.
Das, was oft als Schmetterlingseffekt bezeichnet wird, also die Tatsache, daß geringfügige Änderungen der Ausgangsbedingungen große Folgen haben können, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die sich zum Beispiel auch bei Maxwell erwähnt findet. Poincaré beschäftigte sich mit solchen Fragen im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur Himmelsmechanik und er beschrieb diesen Effekt in seinem populärwissenschaftlichen Buch “Wissenschaft und Methode” mit Worten, die Lorenz späterer Metapher vom Schmetterlingseffekt sehr nahe kommen:
The meteorologists see very well that the equilibrium is unstable, that a cyclone will be formed somewhere, but exactly where they are not in a position to say; a tenth of a degree more or less at any given point, and the cyclone will burst here and not there, and extend its ravages over districts it would otherwise have spared
Das erste tatsächliche Beispiel von (beweisbarem) mathematischem Chaos fand 1898 Hadamard: er konstruierte eine Fläche, so daß man geschlossene Geodäten in jeder (beliebig komplizierten) Homotopieklasse findet – es ist also völlig unmöglich, die Bahn eines Teilchens aus seinem ungefähren Startpunkt abzuleiten. In einem populärwissenschaftlichen Buch von Duhem wurde dies recht einprägsam mit Bildern von kürzesten Wegen auf der Oberfläche eines Ochsenkopfes veranschaulicht. (Weitere Arbeiten zur mathematischen Chaostheorie, ohne direkte Bezüge zu naturwissenschaftlichen Themen, gab es in den 20er Jahren von Birkhoff.)
Obwohl also Poincaré und Duhem in ihren Büchern durchaus den heutigen Veranschaulichungen der Chaostheorie nahekamen, wurde die Chaostheorie öffentlich kaum beachtet – die Diskussion von Grenzen der Vorhersagbarkeit entsprach um 1900 nicht dem Geist der Zeit.
Ganz anders war das dann, als Edward Lorenz 1972 seine berühmte Metapher vom Schmetterlingseffekt erfand. Dabei war an diesem Effekt damals nichts Neues: nicht nur stammte Lorenz Arbeit (über eine stark von den Anfangsbedingungen abhängende Differentialgleichung in 3 Variablen) bereits aus dem Jahr 1963, sondern es hatte ja auch schon lange vorher die Arbeiten von Poincaré, Birkhoff und anderen gegeben, die Lorenz als Metereologe offenbar kaum kannte.
Das eigentliche Neue in Lorenz Arbeit war nicht der Schmetterlingseffekt, sondern daß es Lorenz gelang, diesen trotz der Unvorhersehbarkeit mathematisch zu beschreiben. Zwar ist es (wegen der zu großen Abhängigkeit von den genauen Anfangsbedingngen) nicht möglich, die weitere zeitliche Entwicklung eines Punktes in Lorenz Differentialgleichung vorherzusagen, aber er fand ein geometrisches Gebilde (den Lorenz-Attraktor) mit der Eigenschaft, daß jede Lösungskurve gegen den Attraktor konvergiert.
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