Daß man auch in der Mathematik immer wieder mal etwas noch nicht gewußtes (und eigentlich schon seit Jahrzehnten bekanntes) über ein eigentlich von allen Seiten untersuchtes Thema lernen kann, zeigt eine Diskussion letzte Woche auf “Math Overflow”: https://mathoverflow.net/questions/182412/why-do-roots-of-polynomials-tend-to-have-absolute-value-close-to-1.

Ein Nutzer hatte ein recht banales Mathematica-Experiment durchlaufen lassen: er ließ die Nullstellen aller Polynome vom Grad 300 mit (ganzzahligen) Koeffizienten aus dem Intervall [27,42] plotten und bekam dabei folgendes Bild:
roots

Die Nullstellen liegen alle in der Nähe des Einheitskreises und sind dort ziemlich gleichverteilt.

Das Bild ist zu gut, um Zufall zu sein (zumal andere Parameterwerte ähnliche Bilder liefern) und tatsächlich stellte sich in der Diskussion dann heraus, dass dieser Effekt eigentlich schon seit längerem bekannt ist.

Eine anschauliche Erklärung für dieses Bild findet man recht schnell: die Breite des Intervalls [27,42] ist ziemlich klein relativ zur Anzahl 301 der Koeffizienten; weil Polynom-Nullstellen stetig von den Koeffizienten abhängen, sollten sich die Nullstellen also ähnlich verhalten wie bei einem Polynom
cx^{300}+cx^{299}+\ldots+cx^2+cx+c für, sagen wir, c=27 oder c=42 oder irgendwas dazwischen. Dieses Polynom kann man aber mit (x-1) multiplizieren und erhält das Polynom c(x^{301}-1) , dessen Nullstellen bekanntlich alle auf dem Einheitskreis liegen, was dann natürlich auch für den Faktor cx^{300}+cx^{299}+\ldots+cx^2+cx+c gilt.

Das ist natürlich nur ein heuristisches Argument. Bemerkenswerterweise ergab sich aber aus der Diskussion bei MathOverflow, dass die Verteilung der Nullstellen zufälliger Polynome (d.h. mit Koeffizienten als unabhängigen normalverteilten Zufallsvariablen) schon eine Weile bekannt ist, nämlich aus einer 1995 veröffentlichten Arbeit von Shepp und Vanderbei, und die näherungsweise Gleichverteilung auf dem Einheitskreis für große n ist dann ein Korollar. (n bezeichnet den Grad des Polynoms.) Und in der MO-Diskussion selbst gibt dann noch ein Nutzer ein recht einfaches, nur elementare Komplexe Analysis benutzendes, Argument für die näherungsweise Gleichverteilung auf dem Einheitskreis.