Mathematik, so liest man es gelegentlich in populärwissenschaftlicher Literatur, sei ein Spiel mit Zeichen, die nach beliebig wählbaren Regeln (Axiomen) manipuliert werden können. Die Wahl der jeweils gültigen Axiomatik werde nicht von äußeren Gegebenheiten diktiert, sondern von den Mathematikern in einem quasi politischen Akt demokratisch entschieden.

Man sollte also meinen, dass die Wahl des “richtigen” Axiomensystems, gerade wenn es um die ganz allgemeinen für alle Mathematiker relevanten Grundlagen der Mengenlehre und Logik geht, von enormer Bedeutung und mathematikintern heiß umstritten sein müsste.

Tatsächlich haben solche Auseinandersetzungen über Axiomensysteme in der Vergangenheit aber kaum stattgefunden. Der einzige Grundlagenstreit, der tatsächlich eine gewisse Publizität erreichte, war der in den 20er Jahren zwischen Intuitionismus und Formalismus – und das wohl auch nur deshalb, weil er sich mit eigentlich politisch motivierten Auseinandersetzungen vor allem zwischen Brouwer und Hilbert überlagerte. Zwar gab es damals zahlreiche Diskussionen und auch Veröffentlichungen zum Thema, um die eigentlichen mathematischen Details der neuen Grundlegung ging es dabei aber kaum, zumal diese von Brouwer nur auf Holländisch publiziert und wohl von kaum jemandem verstanden worden waren. Die einzige praktische Konsequenz des Intuitionismus für die Mathematik war wohl, dass Brouwer an der Amsterdamer Universät niemals Vorlesungen über seine topologischen Resultate oder den Brouwerschen Fixpunktsatz hielt, weil sie mit seinen philosophischen Ansichten nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen waren.[1]

Kurz: man konnte mit den neuen Axiomen weniger beweisen als mit den gebräuchlichen der Zermelo-Frenkel-Mengenlehre mit Auswahlaxiom (ZFC), auf denen heute eigentlich die gesamte Mathematik aufbaut.
image

Konkurrenz erwächst der Zermelo-Frenkel-Mengenlehre nun seit einigen Jahren durch die Homotopietypentheorie (HoTT), deren Grundidee es wohl ist, Typen von Objekten durch Homotopietypen topologischer Räume zu repräsentieren.

image

Die Protagonisten (am bekanntesten wohl Wladimir Wojewodski) argumentieren, dass dieser Zugang für die Erstellung computerüberprüfbarer Beweise besser geeignet sei – das wird aber wohl nicht von allen Experten so gesehen.

Jedenfalls, und das war jetzt der Anlaß dieses Artikels, scheint sich das Thema HoTT vs. ZFC zu einem veritablen Grundlagenstreit zu entwickeln. Auf Google+ findet sich aktuell ein polemischer Artikel zu Konflikten auf der “Foundations of Mathematics”-Mailingliste und auch im n-Category Café wird das Thema kontrovers diskutiert.

Bisher habe ich freilich noch von keinem relevanten mathematischen Lehrsatz gehört, der in dem einen Axiomensystem richtig wäre und bei dem anderen Zugang aber nicht. Und solange es dabei bleibt, muss man sich als Mathematiker über den neuen Grundlagenstreit wohl genauso wenige Gedanken machen wie über die früheren.

Kommentare (7)

  1. #1 Dirk Zabel
    Berlin
    9. April 2016

    Danke für den Link auf das Interview mit B. L. van der Waerden. (Interview auf deutsch geführt, dann ins Italienische übersetzt, von dort nach Englisch… lustig). Ich wusste gar nicht, welche enge Beziehung er zu Göttingen hatte – aber ich habe Ende der 70er dort noch mit seinem gelben Buch Algebra gelernt. Ach ja.

  2. #2 Joseph Kuhn
    9. April 2016

    Ganz laienhafte Frage: Müssen diese Axiomensysteme nicht irgendwie zusammenhängen, wenn sie zu den gleichen Sätzen führen?

  3. #3 Thilo
    9. April 2016

    Auch als Laie (zu diesem Thema): die Axiomensysteme sind wohl nicht aequivalent, nur ist mir kein Beispiel eines wirklich relevanten Satzes bekannt, der im einen Axiomensystem gilt und im anderen nicht.

  4. #4 uwej
    10. April 2016

    “Wohl nicht” aequivalent? Na ja. Ist denn überhaupt wenigstens ein prominentes Beispiel eines (meinetwegen weniger relevanten) Satzes bekannt, der in dem einen Axiomensystem gilt und in dem anderen nicht, und wie wird die “wirkliche” Relevanz eines Satzes ermittelt? Geht es nach Hilbert öder Goedel?

  5. #5 Thilo
    11. April 2016

    Wie gesagt: ich habe mir darüber bisher noch keine Gedanken gemacht und ich habe das auch nicht vor – jedenfalls solange es mir nicht passiert dass mich jemand darauf hinweist dass ein mathematischer Fakt, den ich für meine Arbeit benötige, in dem neuen Axiomensystem nicht mehr gültig wäre oder umgekehrt.

  6. #6 MisterX
    13. April 2016

    Das Problem von ZF ist doch das man mit ihm nur intuitiv Mengen beschreiben kann die Zählbar oder endlich sind. Das Problem entsteht wenn man es auf Menge der größe des Kontinuums anwendet. All das ist nicht wirklich invariante Mathematik. Nimmt man z.B. Computerprogramme, dann kann man durch diese Axiomensysteme konstruieren bei denen gewisse Eigenschaften invariant unter einem Axiomenwechsel bleiben (auf Berechenbarkeit bezogen), dann sieht man auch das die reellen Zahlen in jedem Axiomensystem andere Eigenschaften haben. Berechenbarkeit der Systeme von Computer gibt heutzutage den Ton an, und zeig welche Systeme richtig sind (also Invariant) und welche einfach nur ein Rahmenwechsel sind (im Sinne des logischen Positivismus). Dinge wie z.B. die Menge alle Atlanten sind mathematisch dubiose Objekte. Für einen Einstieg in dieses Thema kann ich das Buch von Paul Cohen dazu empfehlen.

  7. #7 Alexander II
    22. April 2016

    Wenn man die Mathematik als Wissenschaft versteht, die nahezu alle naturwissenschaftlichen und IT-Dinge beschreibt und fast alles in der Mathematik auf der Mengentheorie beruht, so sollte man sich durchaus Gedanken machen über diese Grundlagen.

    Die ursprüngliche Definition von Cantor hatte eine nicht klar fassbare Formulierung, eine Selbstreferenz, und die ZFA kann auch nicht auf Mengen verzichten. Ich denke in meinen schlaflosen Nächten immerzu an eine neue Fassung der Mengenlehre. Ja, sogar die Kassiererin im Supermarkt nutzt ein IT-System, das sich locker auf die Mengenlehre von Dezimalzahlzahlen mit 2 Stellen hinterm Komma verlässt, aber kaum ein Computer kann m \in M berechnen. Was nun?

    Auch für Geometer und Topologen ist die Entscheidung der Kontinuumshypothese interessant. Wenn ich einer Kugel 1, 2, 3, …, n, n+1, … Henkel anhefte, und es immer mehr werden, aber doch nicht so viele, wie es reelle Zahlen gibt, wie sieht das Objekt dann aus? Also ein verdammter Rechner, der nur zählen kann, kann das nicht berechnen oder zeichen, oder?