Bisher gewann nur einmal ein Mathematikbuch den American Book Award, Hofstadters Gödel, Escher, Bach 1980. Und seit 1987 (James Gleick: Chaos: Making a New Science) hatte es wohl kein einziges mehr auch nur in die Longlist geschafft.

Immerhin das gelang dieses Jahr Cathy O’Neil mit Weapons of Math Destruction. (Man darf gespannt sein auf den Titel der sicher bald zu erwartenden deutschen Übersetzung: das Wortspiel “weapons of mass destruction” —> “weapons of math destruction” funktioniert im Deutschen ja nicht so wirklich.)

In dem Buch geht es um Big Data und dass deren Algorithmen in der Gesellschaft heute genau so zerstörerisch wirkten wie vor 10 Jahren die Modelle der Finanzmathematik.

Big Data is largely in the hands of large corporate self-interest groups that have no motivation to establish the fair distribution of anything.

In den Rezensionen und auch von der Autorin selbst wird in den Medien der Aspekt hervorgehoben, dass Big Data den Reichen nütze und den Armen schade. “Math is racist” bringt es CNN auf den Punkt die Titelzeile.

Verbrechensstatistiken etwa dienten als Begründung, um die Polizei vor allem in ärmeren Stadtvierteln Präsenz zeigen zu lassen. Drogenkonsumierende College-Studenten blieben deshalb unter dem Radar der Polizei, wenn sie oder ihre Eltern in wohlhabenden Stadtvierteln mit geringerer Polizeipräsenz wohnen. Arme Drogenkonsumenten würden dafür um so häufiger kontrolliert und bestraft. Oder: Postleitzahlen entscheiden über Versicherungsbeiträge und Kreditwürdigkeit. Oder: wenn in ärmeren Stadtvierteln mit mathematischen Methoden die Schulen und Lehrer bewertet werden, dann nützt auch dies den Schulen der Reichen, die auf solchen Hokuspokus verzichten und dann die in den Schulen der ärmeren Stadtteile zu Unrecht gekündigten Lehrerinnen übernehmen können. (Eine solche Geschichte wird im ersten Kapitel ausführlich erzählt.)

Die politischen Interpretationen verwässern ein wenig, worum es in dem Buch eigentlich geht: dass manche Modelle eben unzuverlässiger sind als andere. Als ein zuverlässiges Modell beschreibt sie die Datenverarbeitung im Sport:

Baseball is an ideal home for predictive mathematical modeling. Baseball models are fair in part because they are transparent. Everyone has access to the stats and can understand more or less how they are interpreted.

Und dem gegenüber stellt sie Anwendungen von Big Data in vielen anderen Bereichen. Am detailliertesten arbeitet sie sich an Schulbewertungen ab:

Now you may look at the baseball model, with its thousands of changing variables, and wonder how we could even be comparing it to the model used to evaluate teachers in Washington, D.C., schools. In one of them, an entire sport is modeled in fastidious detail and updated continuously. The other, while cloaked in mystery, appears to lean heavily on a handful of test results from one year to the next. Is that really a model?

Die Geschichte, die sie zu diesem Thema als Einstieg im ersten Kapitel erzählt, beginnt so:

In 2007, Washington D.C.’s new mayor, Adrian Fenty, was determined to turn around the city’s underperforming schools. He had his work cut out for him: at the time, barely one out of every two high school students was surviving to graduation after ninth grade, and only 8 percent of eighth graders were performing at grade level in math. Fenty hired an education reformer named Michelle Rhee to fill a powerful new post, chancellor of Washinton’s schools. Rhee developed a teacher assessment tool called IMPACT, and at the end of the 2009-10 school year the district fired all the tachers whose scores put them in the bottom 2 percent.

Das Problem mit dem Bewertungswerkzeug ist dann, im Unterschied zum Baseball, dass es keine Selbstkorrektur von Fehlern gibt:

But how does it (Mathematica) learn if it was right? It doesn’t.

Es würden immer neue Werkzeuge entwickelt, aber es gäbe keine wirkliche Kontrolle, wie gut diese funktionieren. Soweit alles recht plausibel.

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Kommentare (18)

  1. #1 znep82
    13. Oktober 2016

    Mathevernichtungswaffe(n)
    Geht doch eigentlich 🙂

  2. #2 Robert
    13. Oktober 2016

    Solche Bücher kommen zur rechten Zeit. Wenn man politische Entscheidungen nur aus Statistiken ableitet, dann sind der Manipulation die Tore geöffnet.
    Ich bin gespannt auf die deutsche Übersetzung.

  3. #3 Rotmilan
    13. Oktober 2016

    Vielen Dank. Das Buch klingt in der Tat äußerst vielversprechend. Ich arbeite eigentlich in der Ökologie und der Biodiversitätsforschung. Big data & Modellierung spielen aber auch bei “uns” eine große Rolle, um große (und kleine) Zusammenhänge bei einer Vielzahl von Variablen zu verstehen. Und ähnlich dem Genannten, gibt es hier und da natürlich auch methodisch fragwürdige bis schwierige Fälle, von denen am Ende mitunter wichtige politische Entscheidungen beeinflusst werden können. Sehe hier erstaunlich viele (da methodische ähnliche) Parallelen. Werde mir das Buch auf jeden Fall mal anschauen.

    LG

  4. #4 Bernd
    13. Oktober 2016

    “… die in den Schulen der ärmeren Stadtteile zu Unrecht gekündigten Lehrerinnen übernehmen können.”

    Wird im Buch ein Grund angegeben, warum nur Lehrerinnen gekündigt werden? Lehrer sollten doch genauso betroffen sein.

  5. #5 psychmac
    13. Oktober 2016

    Hofstadters Gödel, Escher, Bach war doch kein Mathematikbuch – ich hätte das beim Lesen sicherlich gemerkt. 🙂

  6. #6 Thilo
    13. Oktober 2016

    @Bernd: es wird ein Beispiel erzählt und da geht es um eine Lehrerin.

  7. #7 Laie
    13. Oktober 2016

    Könnte man auch von Beamtenversagen sprechen? Wenn also mächte Verwaltungspersonen bis pol. Entscheidunsträger von nichts, und von Mathe noch weniger eine Ahnung haben und deswegen falsche Entscheidungen treffen?

  8. #8 user unknown
    13. Oktober 2016

    “Math is racist” deutet darauf hin, dass ein Buch “Rhetorik als Massenverdummungsmasche” nötiger wäre.

    Drogenkonsumierende College-Studenten blieben deshalb unter dem Radar der Polizei, wenn sie oder ihre Eltern in wohlhabenden Stadtvierteln mit geringerer Polizeipräsenz wohnen

    Woher weiß man das wohl, wenn nicht durch die Anwendung von Mathematik?

    Für mich klingt das nach einer wissenschaftsfeindlichen Haltung die mit griffigen Anekdoten bebildert wird.

    P.S.: Bisher gewann nur einmal ein Mathematikbuch den American Book Award, 1980 Hofstadters Gödel, Escher, Bach. (ohne *in* und nicht *hat gewann*).

  9. #9 anderer Michael
    14. Oktober 2016

    Big Data wird immer wichtiger werden, politische Entscheidungen daraufgründend für den Durchschnittsbürger immer weniger durchschaubar. Big Data hat die Chance ein Totschlagargument zu werden, und vielleicht wird die Datenmenge auch noch manipuliert werden (ich will nicht schwarzmalen, aber was möglich ist, wird irgendwann auch gemacht).Auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es erstaunlich viel kritische Literatur dazu.
    Ich persönlich habe überhaupt keinerlei Vorstellungen, wie wir Big Data, eigentlich nur Teil eines Überwachungsstaates (1), als freie Bürger entgegen treten können.

    1. Erst vor kurzem hat unsere beliebte Regierung unter Kanzlerin Merkel die flächendeckende Einführung vernetzter Stromzähler beschlossen.

  10. #10 ulfi
    14. Oktober 2016

    Gegen schlechte Statistik ist kein Kraut gewachsen. Big Data ist zwar ein modeterm, hat aber eigentlich eine festgelegte Bedeutung: viele Datensaetze mit vielen Informationen. Am Ende formen sie die schwierigsten Probleme der Statistik: welche der Variablen beeinflussen meine Zielvariable? Dass es da beliebig schlimme Ergebnisse gibt, wenn man da einen Anfaenger dran setzt, ist klar.

    In Daenemark gibt es die elektronische Patientenakte. Und was soll ich sagen? fuer die medizinische Forschung ist es ein Segen, das Leben eines Patienten 20 Jahre zurueckverfolgen zu koennen.

    Disclaimer: ich arbeite in dem Feld.

  11. #11 Frank
    14. Oktober 2016

    Mathevernichtungswaffeln – einfach essen, wenn’s mit Mathe nicht klappt.

  12. #12 Martin Peters
    28. Oktober 2016

    Hanlons Rasiermesser: Das ist ein toller Spruch!

  13. #13 Thilo
    22. November 2016

    Ein Kuriosum am Rande: die Erziehungsreformerin Michelle Rhee, die für die oben beschriebenen Reformen in New Yorker öffentlichen Schulen verantwortlich war, ist nun (trotz ihrer demokratischen Parteimitgliedschaft) als Bildungsministerin unter Donald Trump im Gespräch: https://m.koreatimes.co.kr/pad/news/view.jsp?req_newsidx=218649

  14. #14 Thilo
    24. November 2016

    Rhee wird jetzt doch nicht Bildungsministerin, statt dessen DeVos: https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-11/donald-trump-us-kabinett-nikki-haley-ben-carson

  15. #15 Thilo
    28. August 2017
  16. #17 Charlotte
    1. März 2020

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  17. #18 rolak
    3. Januar 2021

    Zur WiederWiederbelebung: Cathy O’Neil erschien mir soeben in “The Social Dilemma“.