In Daniel Kehlmanns neuem Roman geht es zwar nicht um Geometrie und die Vermessung der Welt, aber eine der Schlüsselszenen behandelt doch ein durchaus an moderne Mathematik erinnerndes Problem.

Claus ist düster zumute an diesem Abend. Dass er das Körnerproblem nicht lösen kann, liegt ihm bei Tisch auf der Seele.

Es ist vertrackt. Wenn man einen Kornhaufen vor sich hat und ein Korn davon wegnimmt, so hat man immer noch einen Haufen vor sich. Nun nimm noch eines. Ist das immer noch ein Haufen? Natürlich. Nimm noch eines weg. Ist das noch ein Haufen? Ja, natürlich. Nun nimm noch eines weg. Ist es immer noch ein Haufen? Natürlich. Und immer so weiter. Es ist ganz simpel: Nie wird ein Kornhaufen allein dadurch, dass man ein einziges Korn wegnimmt, zu etwas, das kein Kornhaufen mehr ist. Niemals auch wird etwas, das kein Kornhaufen ist, dadurch, dass man ein Korn dazulegt, zu einem Haufen.

Und doch: nimmt man Korn um Korn fort, ist der Haufen irgendwann kein Haufen mehr. Irgendwann liegen bloß noch ein paar Körnchen auf dem Boden, die man beim allerbesten Willen nicht Haufen nennen kann. Und wenn man noch weitermacht, kommt einmal der Moment, da man das letzte nimmt und nichts mehr auf dem Boden liegt. Ist ein Korn ein Haufen? Sicher nicht. Und gar nichts? Nein, gar nichts ist kein Haufen. Denn gar nichts ist gar nichts.

Aber welches Korn ist das Korn, durch dessen Fortnahme der Haufen aufhört, ein Haufen zu sein?

Claus ist der Vater des von Kehlmann in die Zeit des dreißigjährigen Krieges versetzten Protagonisten Tyll Ulenspiegel und seine Beschäftigung mit grundlegenden Fragen nimmt für ihn kein gutes Ende. Vorbild für diese Romanfigur soll der Müller Menocchio gewesen sein, Hauptfigur des 1976 von Carlo Ginzburg verfaßten Der Käse und die Würmer.

Man könnte sagen, dass die von Kehlmann dem Müller in den Kopf gelegten Probleme die der Mathematiker des 20. Jahrhunderts vorwegnehmen: es geht nicht mehr um das Finden eines Rechenverfahrens, sondern um die Klärung eines Begriffs.

Dann hat er in seiner Dachkammer zu arbeiten begonnen. Zu Anfang besonnen und gewissenhaft, bei jedem Korn den Haufen prüfend, aber nach und nach schwitzend und mürrisch und am späten Nachmittag schon in blanker Verzweiflung. Irgendwann hat auf der rechten Seite des Raumes ein neuer Haufen gelegen und auf der linken etwas, das man vielleicht noch einen Haufen hätte nennen können, vielleicht aber auch nicht. Und eine Weile später ist links nur noch eine Handvoll Körner gewesen.

Und wo war nun eigentlich die Grenze? Es ist zum Weinen.

weizen

Kommentare (19)

  1. #1 Joseph Kuhn
    13. Februar 2018

    Zur Sorites-Paradoxie gibt es lesenswerte Überlegungen in Sainsbury: Paradoxien, Reclam 2001.

    Nicht alle formalen Lösungswege sind bei allen inhaltlichen Anwendungen konsensfähig, siehe z.B. bei der Frage, wann ist ein Mensch noch “normal”, wann nicht mehr.

    Ist das Buch insgesamt empfehlenswert?

  2. #2 Cornelia S. Gliem
    13. Februar 2018

    Es stimmt schon dies ist eigentlich kein mathematisches Problem, sondern eines der Begriffe. ein Haufen ist vermutlich etwas ab dem 5 Korn oder je nach Größe und Anordnung der Körner , sobald mehrere Körner übereinander liegen können… abgesehen davon ist Haufen natürlich auch ein vager ein unscharfer Begriff.

  3. #3 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2017/09/19/sketchwalk-pberg/
    13. Februar 2018

    Ich schlage vor, man löst es statistisch.

    Man zeigt 1000 Leuten Bilder mit Haufen oder Nichthaufen, also viel bis wenig Körnern. für jeden bestimmt man die Grenze.

    Dann legt man fest, dass da, wo 95% von einem Haufen sprechen, ein Haufen ist.

    Wo 95% sagen, da ist kein Haufen mehr, da legt man fest sei kein Haufen mehr.

    Dazwischen, das nennt man den Graubereich.

  4. #4 rolak
    13. Februar 2018

    Vor allem scheinen mir solche Begriffe wie eben ‘Haufen’ zu personenbezogen subjektiv zu sein, um sie globaldefinierend über einen Kamm scheren zu können. Es dürfte wohl etwas in Richtung ‘mit den üblichen Schätzungen nicht mehr erfassbar’ sein und schon gar nicht deduktiv aufdröselbar (-1 Korn immer noch?). Also eher das Ende der Sortierung “1, 2, 3..max-sehbare-Zahl, Handvoll, Schüssel, Eimer, ..”, die schon von ihrem Aufbau her jedem die zugrundeliegende Unschärfe klar machen sollte.

    Et ceterum interrogo: Ist das Buch Deiner Meinung nach insgesamt empfehlenswert, Thilo?

  5. #5 Dr. Webbaer
    13. Februar 2018

    @ Kommentatorenkollege ‘user unknown’ :

    Wäre eine gute Möglichkeit Begrifflichkeit so festzulegen, dass mit ihr sicher nicht sinnhaft gearbeitet werden kann.

  6. #6 Joseph Kuhn
    13. Februar 2018

    @ user unknown:

    Das wäre gewissermaßen die Bemühung des Wittgensteinschen “kompetenten Sprechers” für die Analyse des Sprachspiels.

    Irgendwie auf so eine lebenspraktische Art wird der Begriff wohl gelernt. Interessant wäre, ob es Sprachen gibt, bei denen man mit dem Begriff Übersetzungsprobleme hat, denn in den meisten Fällen lässt er sich ja problemlos übersetzen, obwohl er “vage” ist.

  7. #7 Jonas Schimke
    13. Februar 2018

    Ach baerchen,

    merkst du eigentlich noch, was du auch hier wieder für einen Stuss von dir gibst?

  8. #8 Dr. Webbaer
    13. Februar 2018

    Es gibt i.p. Sprache, in den Staaten geht es hier oft auch um Gesetzestexte und deren Bedeutung, grundsätzlich zwei konträre Bemühungen.

    Die eine Bemühung meint den Literalismus und Intentionalismus von Sprache, die andere, grob formuliert, ihre Aktualität, die Mode, auch die der Menge meinend, vgl. mit dem kleinen Versuch weiter oben von Kommentatorenfreund ‘user unknown’.
    (Der es sozusagen auf den Punkt gebracht hat.)

    Der Schreiber dieser Zeilen hängt der erstgenannten Richtung an, auch wenn es hier beizeiten schwierig werden kann, denn die Etymologie muss bekannt sein, zumindest : näherungsweise, wie auch die seinerzeitigen historischen Zustände, wiederum zumindest : näherungsweise.

    Die zweite Richtung, die die Erfahrung und Haltung der Altvorderen relativiert, sich sozusagen im Heutigen vergnügt, wäre also aus seiner Sicht abzulehnen, weil nicht sinnhaft verwaltbar. [1]


    Macht den Braten abär nicht fett, das “Körnerproblem” kann im Gegensatz zum zuvor Geschilderten rein definitorisch bearbeitet bis gelöst werden.
    Der Schreiber dieser Zeilen schlägt spaßeshalber vor sogenannte Haufen als Mengen zu betrachten, die u.a. auch einelementig und leer sein dürfen.

    MFG + schöne Woche noch,
    Dr. Webbaer

    [1]
    So würden ja auch historische Texte, Literatur und so generell, sozusagen hopp gehen.

  9. #9 Dr. Webbaer
    13. Februar 2018

    @ Kommentatorenkollege ‘rolak’ :

    Guter Gag btw – ‘scheinen mir solche Begriffe wie eben ‘Haufen’ zu personenbezogen subjektiv zu sein’ – könnte so allgemein stimmen, wenn es aber mathematisch wird, besondere Fähigkeitslehre bleibt gemeint, wird mit bspw. “Eins, zwei, drei, viele” nicht happy geworden.

    Diese Fähigkeitslehre steht außerhalb des allgemeinen Diskurses, weil sie tautologisch oder formalwissenschaftlich ist,
    ganz am Rande notiert, das Dezimalsystem hängt offensichtlich von der Zehnfingrigkeit ab, mit den Zehen, derartige grundsätzlich ebenfalls verfügbare Extremitäten meinend, kann schlechter gezählt werden, so etwas ginge grundsätzlich auch, ist ja auch heute noch verbreitet.

    HTH (“Hope to Help”)
    Dr. Webbaer

  10. #10 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2018/01/26/die-fettste-kartoffel/
    13. Februar 2018

    Interessant wäre, ob es Sprachen gibt, bei denen man mit dem Begriff Übersetzungsprobleme hat, denn in den meisten Fällen lässt er sich ja problemlos übersetzen, obwohl er „vage“ ist.

    Wichtig ist, dass er in der anderen Sprache ebenso vage ist.

    Die Anzahl der Elemente scheint mir überhaupt eigentlich weniger die Frage, als die Gestalt, in der die Element ihn bilden.

    Die Körner im Bild sind kein Haufen, weil sie alle auf einer Ebene liegen. Wieviele mögen es sein? 135? Dagegen kann man mit 2 Socken, einer Hose und einem Hemd schon einen kl. Kleiderhaufen bilden.

  11. #11 regow
    13. Februar 2018

    Ein Haufenkorn ist ein Korn, welches in jeder seiner Umgebungen unendlich viele Körner zum Nachbarn hat.
    Letztlich muss das Haufenkorn nicht einmal ein Korn sein…

  12. #12 Ludger
    13. Februar 2018

    Wie user unknown #10 schon schreibt:

    Die Körner im Bild sind kein Haufen, weil sie alle auf einer Ebene liegen.

    Die Eigenschaft “Haufen” wird also nicht alleine über die Anzahl bestimmt sondern auch über die Anordnung, die ihrerseits außer von der Anzahl von der Anziehung der Objekte untereinander, der Reibung aneinander und am Untergrund und der Erdanziehung abhängt. Im Weltall könnten die Körner des Bildbeispieles zu einem Haufen gebildet werden. Auf der Erde müssten sie dafür hakelig oder magnetisch sein. Insofern ist die Frage nach einem Grenzwert unsinnig.

  13. #13 erik||e oder wie auch immer . . . ..
    13. Februar 2018

    . . . .. vom „rechten Glauben“ abgekommen:
    „Später versuchte er(Menocchio) vor der Kommission seine Glaubensvorstellungen zu rechtfertigen: von den vier Natur-Elementen ist das Feuer Gott, während Gott-Vater die Luft, Gott-Sohn die Erde und der heilige Geist das Wasser ist.“ https://de.m.wikipedia.org/wiki/Menocchio

    . . . .. interessant auch die Einschätzung im Wikiartikel:
    „… Einblick in die bäuerliche Religion bzw. den „volkstümlichen Materialismus“…“

    . . . .. noch einer, der vom „rechten Glauben“ abgekommen ist, aber von der „Kommission“ unter ständiger Beobachtung stand:
    RUDOLF STEINER „Der menschliche und der kosmische Gedanke“
    Vier Vorträge, Berlin vom 20. bis 23. Januar 1914
    „Das also, was eben gesagt worden ist, verspricht uns, dass der Mensch, wenn er sich an das hält, was er im Gedanken hat, eine intime Beziehung seines Wesens zum Weltall, zum Kosmos, finden kann.“ https://anthroposophie.byu.edu/vortraege/151.pdf

    . . . .. Steiner und Menocchio waren wohl Brüder im Glauben und manche Mathematiker, welche sich mit der Geometrie im/des Unendlichen beschäftigen, wohl auch . . . ..

    . . . .. jedenfalls beobachte ich das so .. . . .

  14. #14 Hubert
    14. Februar 2018

    So ein Sprachmüll in einem Mathe-Blog? Unfassbar.

  15. #15 Dr. Webbaer
    14. Februar 2018

    Vgl. :

    -> https://www.etymonline.com/word/heap

    Ein Haufen müsste die Vermengung von Ähnlichem meinen.

  16. #16 Dr. Webbaer
    14. Februar 2018

    @ Herr Dr. Joseph Kuhn und hierzu :

    Interessant wäre, ob es Sprachen gibt, bei denen man mit dem Begriff [“Haufen” –
    Ergänzung : Dr. Webbaer] Übersetzungsprobleme hat, denn in den meisten Fällen lässt er sich ja problemlos übersetzen, obwohl er “vage” ist.

    Sicher gibt es derart immer ‘Übersetzungsprobleme’, was ja auch “irgendwie” klar sein könnte, wenn sich die Begriffsgeschichten unterscheiden, nicht etymologisch auf bestimmte Wurzel im Altsprachlichen zurückgeführt werden kann, Sprachfamilien meinend.

    ‘Vage’ und ‘problemlos’ schließen sich insofern aus.

    Aber davon abgesehen bestehen auch grundsätzliche Verständigungsprobleme zwischen den hier gemeinten Bären oder Primaten allgemein, denn das, was bspw. Sie gedanklich konstruieren, wenn Sie eine Nachricht erhalten, kann vom anderen anders gemeint und sprachlich aufgebaut worden sein.
    (Sie sind ja, dem Anschein nach, i.p. Sprache ein eher “lockerer Typ”, “töfte” natürlich in persona zudem, auch Moden unterworfen und weniger sprachwissenschaftlich interessiert, wissen auch zu püschologieren, ein Chapeau! an dieser Stelle.)

    “Shannon-Weaver” greift hier nicht, weil die Kodierungsregeln sozusagen unzureichend ausgetauscht worden sind und das Rauschen sozusagen nicht einmal näherungsweise zuverlässig ausschließen können.

    MFG
    Dr. Webbaer

  17. #17 Logisch denkender Mensch
    15. Februar 2018

    @ Hubert:

    Meinst Du nur den Erikje oder auch den Braunbär? Für mich sin beide….. naja…. wie soll man sagen….. eher unbrauchbar einer Debatte……

    Meine Nichte und mein Neffe finden das Thema übrigens spannend. Wir testen das demnächst an einem großen Haufen Chicken Wings……

    *Hjam*

  18. #18 Dr. Webbaer
    15. Februar 2018

    Ergänzend hierzu webverwiesen :

    Man könnte sagen, dass die von Kehlmann dem Müller in den Kopf gelegten Probleme die der Mathematiker des 20. Jahrhunderts [Hervorhebung : Dr. Webbaer] vorwegnehmen: es geht nicht mehr um das Finden eines Rechenverfahrens, sondern um die Klärung eines Begriffs. [Artikeltext]

    -> https://de.wikipedia.org/wiki/Universalienproblem#Thomas_Hobbes_und_John_Locke

    -> https://www.duden.de/rechtschreibung/Nominalismus

    MFG
    Dr. Webbaer (der also strenger Nominalist ist)

  19. […] Bemerkenswerterweise hat schon vor 15 Jahren Durs Grünbein ein (sehr) langes Poem über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben und diesen als Aufhänger für erkenntnistheoretische Reflektionen („Im Zweifelsfall – halt dich am Zweifel fest“) verwendet – die für seinen Helden immerhin ein besseres Ende nehmen als bei Kehlmann. […]