Der Beginn des 30-jährigen Krieges wird sich im Mai zum 400. Mal jähren (und bereits gestern jährte sich der Dritte Prager Fenstersturz) und dementsprechend gibt es einiges an neuer Literatur, die der Lust am Untergang nachzuspüren versucht. Daniel Kehlmann sieht seinen neuen Roman „Tyll“ durchaus als eine „Warnung“ für die Gegenwart (dieses Interview) und auch Herwig Münklers vor vier Monaten erschienenes Opus Der Dreißigjährige Krieg zieht vorsichtig Parallelen zur heutigen Zeit.
Bemerkenswerterweise hat schon vor 15 Jahren Durs Grünbein ein (sehr) langes Poem über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben und diesen als Aufhänger für erkenntnistheoretische Reflektionen („Im Zweifelsfall – halt dich am Zweifel fest“) verwendet – die für seinen Helden immerhin ein besseres Ende nehmen als bei Kehlmann.
Worum es geht: der Philosoph Renè Descartes erlebt als junger Soldat im zweiten Jahr des dreißigjährigen Krieges in der Nähe von Ulm einen extrem kalten Winter. In diesem Winter hat er erst eine Tagtraumvision und in der anschließenden Nacht drei Träume, die er als göttliche Offenbarung eines Auftrages, die verschiedenen Wissenschaften unter dem Dach der Mathematik zusammenzubringen, ansieht.
Ein Thermometer mißt zum ersten Male hohes Fieber.
Der Logarithmentafel folgt der Rechenschieber.
Die Mathematik – oder allgemein das rationale Denken – also nicht nur um ihrer selbst Willen, sondern auch als Heilmittel gegen das Fieber der Verwirrten.
In Grünbeins neuem, vor einem halben Jahr erschienenen Gedichtband „Zündkerzen“ kommt die Mathematik nun auch vor, und wieder als Medikament gegen das „Gewicht der Psyche“ und die „Vermessenheit“:
Und seit der Schulzeit der größte Schwindel: Mathematik.
Eine Übung, sich selbst zum Verschwinden zu bringen.
Grausame Lehre, die jede Vermessenheit heilte.
Warum ich gerade heute darauf komme, hier auf Grünbein und seine Texte zur Descartes’schen Rationalität hinzuweisen? Es gab da diese Woche diese Diskussionsveranstaltung in Dresden (im Video unten verlinkt), bei der man Grünbeins Gesprächspartner (oder eher Gesprächsgegner) etwas mehr Rationalität gewünscht hätte, vielleicht auch als Mittel gegen das „Gewicht der Psyche“:
Es ist schon ziemlich bedrückend, wenn der Kontrahent dort (sinngemäß) eine Diskussion einfordert und sich darüber beklagt, von niemandem ernstgenommen zu werden, er dann aber gerade einen Diskurs führt, der eine ernstzunehmende – rationale – Diskussion eben verunmöglicht und offenkundig auch verunmöglichen soll.
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