Die Stokes-Formel ist eine sehr einfach aussehende Formel, die wichtige Sätze aus der Elektrodynamik wie den Rotationssatz oder den Gaußschen Integralsatz
zusammenfaßt. Sie lautet kurz und einfach:
In Wirklichkeit ist die Formel nur scheinbar einfacher als die beiden obenstehenden; man muss nämlich wissen, was das d in der Formel bedeutet und was eine Differentialform ist und wie man sie integriert. (Die Formel in dieser einfachen Form geht auf Georges de Rham zurück, der als Lehrer in Lausanne arbeitete, in den Ferienmonaten Seminare in Paris besuchte sowie an einer These bei Lebesgue arbeitete. Letzterem gelang es, ihm einen Termin bei Cartan in dessen Haus zu besorgen, wo er – angeblich zum Klang des Klavierspiels der übenden Cartan-Kinder – diesen von seinem Ansatz zu überzeugen vermochte. So jedenfalls die Geschichte, wie sie im Roman unter dem Datum “17. April 1930” erzählt wird.)
Die Stokes-Formel ist die Heldin eines fast neuen (2016) bisher leider nur auf Französisch erschienenen Romans von Michèle Audin.
Eine auffällige Besonderheit dieses Romans ist, dass seine “Handlung” sich nicht chronologisch entwickelt, sondern nach Daten Monat-Tag geordnet ist, womit die Jahre (im Wesentlichen zwischen 1825 und 1936) wild durcheinandergehen. Der Roman beginnt also am 1.Januar 1862 mit dem Tod Ostrogradskis (und einigen Anekdoten über dessen späteres Erscheinen auf sowjetischen Briefmarken und Streichholzschachteln), von dem eine Variante des Gaussschen Integralsatzes stammt, und endet am 23. Dezember 1935 mit dem Erscheinen des ersten unter dem Namen Nicolas Bourbaki veröffentlichten Artikels und der Vorgeschichte des für diese Publikation benötigten Vornamens. (Die Stokes-Formel erschien erst 1971 in den Elementen Bourbakis, nachdem Henri Cartan ihr aber schon 1951 einen Vortrag im Bourbaki-Seminar gewidmet hatte.)
Die nicht-chronologische Entwicklung erlaubt das Bewerten vieler nur lose mit dem Thema politischer oder wissenschaftlicher zusammenhängender Ereignisse sowie das Erzählen vieler Anekdoten ohne auf eine Rahmenhandlung Rücksicht nehmen zu müssen. Und es erlaubt dem Leser an einer beliebigen Stelle einzusteigen, eine oder mehrere Seiten zu lesen und dann zu einer Stelle zu springen. (Querverweise sind zahlreich angegeben.)
Einige Male gibt es zwischendurch auch Flashforwards in die Gegenwart der Autorin, etwa am 12. April 2012 in Telefonat mit einem Verleger: “Ich habe ihnen vor drei Monaten ein Buchprojekt geschickt und sie haben noch nicht geantwortet.” “Was war das nochmal gewesen?” “Ein Buch über die Stokes-Formel.” “Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Nein.” “Was nein?” “Das geht nicht. Hören sie! Sie beginnen damit, den Tod eines Unbekannten zu erzählen. Danach quälen sie uns über Seiten mit langweiligen Versammlungen vergessener Mathematiker. Wer, glauben sie, wird sich für diese Typen interessieren?…”
Tatsächlich haben viele Geschichten mit der Pariser Akademie und ihren Sitzungen zu tun, deren Akten (neben anderen zur französischen Mathematikgeschichte) die Autorin (für andere Buchprojekte) ausgewertet hatte, so dass dieses Buch nun wohl auch dem Zweck dient, die nicht in wissenschaftlich-historischen Texte fassbaren subjektiven Teile der Geschichte eben als Roman zu verarbeiten. Auch wenn es meist um das Leben einzelner Mathematiker geht, lernt man viel über die Geschichte (nicht nur der Wissenschaft) Frankreichs und sogar einiges über Mathematik. (Man kann die stets sehr kurzen Ausführungen zur Mathematik aber auch problemlos überspringen ohne im Lesefluss gestört zu werden.)
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