„Über die Schrift hinaus heißt das neue Buch von Ulla Berkéwicz. Gründend auf das vedische, das jüdische und das mathematisch-topologische Wissen, formuliert es in zwei einander bespiegelnden, korrespondierenden Teilen die Aufforderung, wahrzunehmen, was unser Bewusstsein beschränkt.
In einer überwältigenden poetischen Phantasie überschreitet in der dreizehnten Stunde einer Faschingsdienstagnacht eine Dichterpartisanin die Schwelle des Erzählens und ein Mathematikrebell die Zählbarkeit der Zahl. Das sprengt eine Potentaten-, Künstler- und Bürgergesellschaft aus ihrem Rahmen, so dass sie den beiden in ihre Vorstellungsfreiheit folgen kann. Die geistes- und naturwissenschaftlichen Grundgedanken für dieses anarchische Spektakel entwickelt eine so provokante wie kompromisslose Prosaschrift, die zeigt, was möglich ist, wenn wir unsere Wahrnehmung nicht auf unsere Sphäre der drei Dimensionen beschränken, sondern unseren Vorstellungen freien Lauf lassen in Bereiche, die von den Begriffen Raum und Zeit nicht begrenzt sind.“
Mit diesem Text bewirbt der Suhrkamp-Verlag das neue Buch seiner Aufsichtsratsvorsitzenden Ulla Berkéwicz.
Es ist noch keine zehn Jahre her, dass manche Publizisten am liebsten jeden an die Wand gestellt hätten, der sich den neuen technologischen Entwicklungen in den Weg stellen wollte. Als etwa 2010 Wohnungs-Eigentümer und Mieter die Möglichkeit bekamen, ihre Häuser in Google Street View unkenntlich zu machen, wollte Jens Best mit 269 Unterstützern diese Häuser dann gerade fotografieren und ins Netz stellen lassen um die Freiheit des öffentlichen Raumes zu verteidigen. Dafür war er nach eigener Aussage (auf Spiegel Online) sogar bereit, ins Gefängnis zu gehen. (Von der Aktion hat man später nie wieder etwas gehört, auch mit Google habe ich nichts nach 2010 dazu gefunden.) Ähnlich äußerte sich damals auch Anatol Stefanowitsch.
Inzwischen geht es nun in die andere Richtung und immer mehr Autoren versuchen, im Zusammenhang mit Google und Facebook das Szenario eines totalen Überwachungsstaates zu entwerfen. Das Buch von Ulla Berkéwicz unterscheidet sich von anderen insofern, dass es keine konkreten Szenarien an die Wand malt, sondern die Entwicklung künstlicher Intelligenzen in größere philosophische und geisteswissenschaftliche Zusammenhänge einzuordnen versucht mit Norbert Wiener und Joseph Weizenbaum (im Buch “Rabbi Wiener” und “Rabbi Weizenbaum”) als Wiedergänger des Rabbi Löw, der im Prag des 16. Jahrhunderts den Golem entwickelt (haben soll).
Das Buch zerfällt in zwei Teile. Der erste ist eine wortgewaltige Abrechnung mit den (nach Meinung der Autorin) ursprünglich aus der Tradition der LSD-Aktivisten und Blumenkinder stammenden Netzaktivisten und Silicon Valley-Pionieren, die sich und ihre Erfindungen einer “neuen kapitalistischen Logik” unterworfen hätten und nun eine neue Übermenschenideologie “esoterisch, rassistisch, amerikanisch konsumtiv” vertreten würden. Im zweiten Teil, und hier kommt nun der Mathematiker ins Staunen, geht es um Grigori Perelman, der (nach Meinung der Autorin) mit einem “Minimum an blinder Rechnung” auskomme, weil er mit “einem Maximum an sehenden Gedanken” arbeitet und im Buch dann gemeinsam mit der Schriftstellerin Friederike Mayröcker in einem Wiener Café die Entzweiung von Logos und Mythos überwindet.
Das ist aus der Sicht des Mathematikers eine bemerkenswerte Behauptung. Natürlich gibt es in der Mathematik immer den Spagat zwischen langen Rechnungen und konzeptuellen Ansätzen, und sicherlich unterschied sich Perelman zu Vorgängern, die ebenfalls mit Krümmungsflüssen gearbeitet hatten, durch neue geometrischere und nicht nur analytische Ideen, aber jedenfalls ist Perelmans Beweis im Vergleich zu Beweisen anderer topologischer Sätze durchaus ziemlich rechenintensiv.
Aber natürlich ist das dichterische Freiheit und so wie Gödel immer herhalten mußte für Interpretationen seiner Arbeit, die mit deren tatsächlicher Bedeutung wenig oder nichts zu tun hatten, so darf man natürlich auch Perelman als Metapher verwenden, auch wenn es in der Geschichte der Mathematik für den von der Autorin gewünschten Gegensatz zwischen (menschlicher) Kreativität und (maschineller) Rechenkraft sicher überzeugendere Beispiele gegeben hätte.
Das Thema des Buches, also ob Maschinen die Macht übernehmen und ob Kreativität dann noch mit Rechenkraft wird mithalten können, sollte natürlich auch von “fachfremden” Geisteswissenschaftlern diskutiert werden. Was dieses Buch allerdings zu zäher Lektüre macht, ist die wohl als besonders kreativ empfundene Überfrachtung des Textes mit tausenden vagen Assoziationen zu allen möglichen geistesgeschichtlichen Bezügen. Über weite Strecken liest sich das wie die Arbeit eines Schülers, der seinem Lehrer beweisen will, was er alles schon gelesen und wie viele Fremdwörter er nachgeschlagen hat. Ein willkürlich herausgegriffenes Textbeispiel:
Seit also die exakten Wissenschaften des magischen Agens, die Theogonien und Kosmogonien des Hermes Trismestigos und des Moses Ben Amram, die dem all einen Zweck dienten, das universale Gleichgewicht, die aus der Analogie der Gegensätze resultierende Harmonie zu erhalten oder wiederherzustellen, dem Vergessen anheimgefallen, seit Manipulation mit Hilfe naturgegebener Mittel durch die unberechenbaren Möglichkeiten unserer Vorstellungsfreiheit, unseres baren Selbst, der Manipulation durch Berechenbares gewichen ist, seit kommerzialisierte Zweigwissenschaften mehr öffentlichen Reiz darstellen als ihre exakten Stammschulen, Zombiologie und Technomagie wirtschaften und wüten, Statistik als adäquate Beschreibung von Realität gilt und das Geräusch der Spülmaschine sich anhört, als atme da wer zuverlässig in unsere Gottverlassenheit, sind wir auf dem Abweg, uns selber um uns selbst zu bringen, uns der Struktur des Formalen anzupassen und als “Maschine der Natur” berechenbar zu werden. Müssen wir, wie Erwin Schrödinger, der Quantenheilige, in weiter Voraussicht schrieb, fürchten, “dass wir uns entwicklungsmechanisch dem Ende einer Sackgasse nähern”.
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