Die Ströme der Zeit sind gegen Rationalität, in verwirrten Zeiten wenden sich die Leidenschaften der Jugend anderen Göttern und Idolen zu.
Die DMV hat heute eine kurze Notiz zum 125. Geburtstag von Kurt Reidemeister. Der war, was heute wohl ziemlich vergessen ist, Anfang der 30er Jahre bekannt geworden, weil er sich in seinen Vorlesungen mit den Aktivitäten der damals sehr deutschnational orientierten Studenten auseinandersetzte.
In Wien traf sich damals schon seit der Vorkriegszeit der Wiener Kreis, eine Gruppe von Intellektuellen, die durch eine Verwissenschaftlichung der Philosophie den damaligen metaphysischen Strömungen entgegenwirken wollte. Verschiedene Mathematiker gehörten dazu, darunter Hans Hahn (vom Hahn-Banach-Theorem), durch den Reidemeister in seiner Zeit als außerordentlicher Professor in Wien ab 1922 mit den Ideen des Wiener Kreises in Berührung kam. Seine mathematischen und auch sonstigen Interessen waren vielseitig, aber bekannt wurde er vor allem durch seine Arbeiten zur Knotentheorie: er hatte (gleichzeitig mit amerikanischen Mathematikern) bewiesen, dass zwei Knotendiagramme genau dann denselben Knoten repräsentieren, wenn sie sich durch eine Folge gewisser Bewegungen – die im Bild unten abgebildeten – ineinander überführen lassen. Später hatte er dann in einem philosophischen Aufsatz die Ansichten Hilberts und des Wiener Kreises verknüpfen wollen. Im Sinne des Wiener Kreises waren seine polygonalen Knotendiagramme “symbolische Zeichen eines anschaulich-wirklichen Gegenstandes, seine elementaren Operationen kodifizieren Erfahrungstatsache auf einer symbolischen Ebene”. Seine Zurückweisung der logizistischen These war von Hahns Ansichten nicht so weit entfernt.
Seit 1925 arbeitete Reidemeister dann in Königsberg und als dort Ende 1930 vier große Wissenschaftskongresse gleichzeitig stattfinden sollten, organisierte er bei der Gelegenheit auch ein Treffen des Wiener Kreises.
Die Megatagung aus vier Kongressen erhielt große öffentliche Aufmerksamkeit und Hilbert, der inzwischen auf der Höhe seines Ruhmes stand, wurde gebeten, seine berühmt gewordene Ansprache für das neue Medium des Rundfunks zu halten. Sie endete mit den Worten “Wir dürfen nicht jenen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für uns gibt es kein Ignorabimus und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaften überhaupt nicht. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Losung: wir müssen wissen, wir werden wissen.”
Wenige Wochen nach dem Kongreß sollte dann in den Räumen der Universität eine studentische Feier zum Jahrestag der verlustreichen Schlacht von Langemarck vom Beginn des Weltkrieges stattfinden. Einen Kranz mit der Aufschrift “Die deutsche Studentenschaft” ließ der Rektor entfernen, weil es eine Organisation mit diesem Namen nicht gab. (Korrekt wäre “Freie Studentenschaft” gewesen.) Das führte zu einem Studentenaufruhr, den der Rektor auch mit der Polizei nicht eindämmen konnte. Letztendlich mußte der Rektor wegen der Studentenproteste gegen die Entfernung des Kranzes zurücktreten. Reidemeister verwendete damals eine ganze Vorlesung, um in allen logischen Einzelheiten darzulegen, warum diese Unruhen und das Benehmen der Studenten “vollständig unvereinbar mit dem Denken vernünftiger Menschen” wären.
Die nationalsozialistischen Studenten würden ihm diese Beleidigung nicht vergessen. Nach der Machtübernahme wurde er, obwohl er sonst keines der einschlägigen Kriterien erfüllte, sofort entlassen. Er bekam dann eine Stelle im abgelegenen Marburg, wo er die NS-Zeit überwintern konnte. Noch in den 70er Jahren würde sich Heinrich Behnke in einem Nachruf empören, dass Reidemeister in Marburg (in Bezug auf seine politischen Ansichten) “Narrenfreiheit” genossen und dies später aber niemandem gedankt habe.
In der Zeit in Marburg schrieb Reidemeister dann seine berühmte Arbeit über Reidemeister-Torsion, mit der er für gewisse homotopie-äquivalente geschlossene 3-Mannigfaltigkeiten beweisen konnte, dass sie nicht homöomorph sind. Nach dem Krieg wurde er 1946 Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung DMV.
Das Eingangszitat stammt aus einem Glückwunschtelegramm, das die DMV 1932 zu David Hilberts siebzigstem Geburtstag sandte, unterschrieben von Weyl, Hasse, Bieberbach und Neugebauer. Der Text dürfte wohl auf Neugebauer zurückgehen und ist insofern bemerkenswert, dass zwei der vier Unterzeichner nur ein Jahr später eine wesentliche Rolle bei der Etablierung einer “Deutschen Mathematik” spielen würden.
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