Michael Atiyah gilt als einer der einflußreichsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Besonders der Atiyah-Singer-Indexsatz, welcher einen Zusammenhang zwischen topologischen Invarianten und der Lösbarkeit partieller Differentialgleichungen herstellt, ist eines der meistgenutzten Resultate der heutigen Mathematik.

Atiyah kam eigentlich von der algebraischen Geometrie und auf den Indexsatz kam er ursprünglich von der topologischen Seite. Ganzzahligkeits- und Teilbarkeitsaussagen für charakteristische Klassen hatten damals zu einigen überraschenden Anwendungen geführt und er fragte sich dann, warum das A-Geschlecht einer Spin-Mannigfaltigkeit immer eine ganze Zahl ist: es müsse dafür einen tieferen Grund geben als den topologischen Beweis. Diesen tieferen Grund gab es dann auch: für Spin-Mannigfaltigkeiten kann man den Dirac-Operator definieren (eine Art Quadratwurzel aus dem Laplace-Operator, genauer gilt D2=Δ+S/4 für die Skalarkrümmung S) und es stellte sich heraus, dass der Index des Dirac-Operators gerade das A-Geschlecht war, was insbesondere dessen Ganzzahligkeit erklärt.
Der Index eines Operators D ist definiert als dim(ker(D))-dim(coker(D)). Anders als die Dimensionen des Kerns und Kokerns, die bei stetigen Deformationen des Operators “springen” können, bleibt der Index bei solchen Deformationen konstant. Deshalb war damals von der Moskauer Schule um Gelfand vermutet wurden, dass der Index eines elliptischen Operators sich mittels topologischer Größen ausdrücken lassen sollten. Das bewiesen Atiyah und Singer dann für recht allgemeine Klassen von Operatoren, sogenannte verallgemeinerte Dirac-Operatoren. Als Spezialfälle bekamen sie z.B. Hirzebruchs Signaturformel oder die Berechnung der Euler-Charakteristik mittels deRham-Kohomologie.

Vor seinen Arbeiten zum Indexsatz hatte Atiyah mit Hirzebruch die topologische K-Theorie entwickelt. Motivation war Grothendiecks K-Theorie algebraischer Vektprbündel über Varietäten, mit der dieser scheinbar ohne große Anstrengung eine sehr allgemeine Version des Riemann-Roch-Theorems bewiesen hatte. Mit der K-Theorie konnten sie dann nicht nur viele Dinge beweisen, die sich auch mit Homologie und Kohomologie beweisen ließen, sondern auch viele bisher unzugängliche Resultate. Auch die von Adams ursprünglich mit Kohomologie bewiesene Formel für die Anzahl linear unabhängiger Vektorfelder auf einer n-dimensionalen Sphäre wurde dann mit K-Theorie viel einfacher. Der Beweis zum Indexsatz verwendete in seiner zweiten Version K-Theorie, nachdem in der ersten Version Thoms Berechnung der Kobordismusgruppen verwandt worden war, der einfachste Beweis benutzte aber später den Wärmeleitungsfluß, mit dem die Berechnung des Indexes auf eine Rechnung in lokalen Koordinaten zurückgeführt werden konnte.

Mit Bott bewies Atiyah später noch eine äquivariante Form des Indexsatzes und eine Fixpunktformel, die verschiedene zahlentheoretische Anwendungen hatte und die als Spezialfall Weyls Charakterformel aus der Darstellungstheorie enthält. Sehr einflußreich waren auch seine Arbeiten mit Bott über die Yang-Mills-Gleichungen auf Riemannschen Flächen, in denen sie die Morse-Theorie des Yang-Mills-Funktionals benutzen, um die Topologie des Modulraums stabiler Vektorbündel über Flächen zu bestimmen.

Atiyah war in London geboren, sein Vater war Libanese mit englischer Erziehung und Studium in Oxford, seine Mutter Schottin. Seine Kindheit hat er im mittleren Osten verbracht. Bis Kriegsende war sein Vater Kolonialbeamter im sudanesischen Khartum gewesen, danach war er als Autor und Vertreter der palästinensischen Sache tätig. Atiyah selbst hatte nach der Grundschule im Sudan eine englische Schule in Ägypten besucht und ab 1949 in Cambridge studiert. Später war er Professor in Oxford, zeitweise in Princeton, und ab 1990 in Cambridge. Er war auch wissenschaftspolitisch sehr einflußreich und propagierte besonders eine enge Verbindung von Mathematik und Physik.

Kommentare (4)

  1. #1 Bruno der Lehrer
    20. Januar 2019

    Es ist wirklich sehr schade, dass Sir Michael Atiyahs Leben zu Ende ist. Den von Thilo Kuessner so gelobten Atiyah-Singer-Indexsatz als einer der meist genutzten Resultate der heutigen Mathematik kann ich nur bewundern. Ich benutze eher den Satz des Pythagoras und auch meine Kollegen haben den Atiyah-Singer-Indexsatz weder in der 5. noch in der 12. Klasse verwendet. Wir hatten dauernd mit elementarer Algebra zu tun, irgendwie erklärt sich das so schwer, ein bisschen elliptische Kurven oder Lie-Gruppen haben wir durchgenommen, aber das war‘s dann schon. Gibt es denn da so eine Weiterbildung, wo man das didaktisch aufgearbeitet hören kann? In Berlin vielleicht?

    Doch nun hat Atiyah sich an der riemannschen Vermutung versucht, er hat eigentlich die Feinstrukturkonstante berechnen wollen und die als mathematische Konstante hinterfragt. Dabei ist er gleich auf arithmetische Physik mit Renormierung, Hirzebruch Formalismus, projektive Räume usw. gekommen. Er bewundert Bernoulli, Euler, von Neumann, rechnet richtig

    1 + 8 + 128 = 2^0 + 2^3 + 2^7 = 137

    aus, einfach genial.

    Seine beiden bei Google Drive hinterlegten Papiere sind wohl nicht so gut in der mathematischen Community angekommen. Ich habe sie mit Bewunderung gelesen, es steckt so viel Humor aber auch Drama drin. Schade, dass es seine letzten waren.

    https://drive.google.com/file/d/1WPsVhtBQmdgQl25_evlGQ1mmTQE0Ww4a/view

    https://drive.google.com/file/d/17NBICP6OcUSucrXKNWvzLmrQpfUrEKuY/view