Viele physikalische Phänomene werden durch partielle Differentialgleichungen beschrieben. Um solche Differentialgleichungen zu lösen, benutzen Mathematiker oft einen verallgemeinerten Lösungsbegriff, mit dem sich leichter arbeiten läßt, sogenannte schwache Lösungen. Es stellt sich dann natürlich immer die Frage, was solche schwachen Lösungen noch mit dem ursprünglichen physikalischen Problem zu tun haben.
In der Gauß-Vorlesung Anfang Juni in Göttingen (die ich leider nicht gehört habe) hat László Székelyhidi solche Lösungen der Strömungsmodelle als „schöne Monster“ bezeichnet.
Für ihre Arbeiten über vermeintlich physikalischen Gesetzen widersprechende schwache Lösungen der Navier-Stokes-Gleichungen haben Tristan Buckmaster, Philip Isett und Vlad Vicol letzte Woche den Clay Research Award gewonnen (gemeinsam mit Wei Zhang für seine Arbeiten zur Zahlentheorie).
Über Jean Leray wird erzählt, er habe manche Zeit damit verbracht, Strudel und Wirbel in der Seine an den Pfeilern des Pont Neuf zu beobachten. So sei er auf Inspirationen für seine Arbeiten über Hydrodynamik gekommen, in denen er schwache Lösungen für die Navier-Stokes-Differentialgleichungen der Strömung linear-viskoser Flüssigkeiten oder Gase fand. Die Singularitäten dieser Lösungen entsprechen der Turbulenz von Flüssigkeiten und Gasen. (Eine andere, eher unwahrscheinlich klingende Geschichte über Leray erzählt, er hätte seine Theorie der Spektralsequenzen entwickelt, als er als Kriegsgefangener jahrelang auf Gitterstäbe blicken mußte.)
Leray und Schauder entwickelten damals eine erste systematische Theorie partieller Differentialgleichungen, mit der sie die Existenz schwacher Lösungen für die Navier-Stokes-Gleichungen beweisen konnten. “Schwache Lösungen” sind ein verallgemeinerter Lösungsbegriff für Lösungen partieller Differentialgleichungen, sie sind keine klassischen Funktionen, sondern sogenannte Distributionen. Für „elliptische“ partielle Differentialgleichungen kann man beweisen, dass die schwachen Lösungen richtige Lösungen sind, also beliebig oft differenzierbare Funktionen, die die Differentialgleichung erfüllen. (“Schwache Lösungen” sind dagegen nur Elemente aus einem geeigneten Dualraum des Raums der differenzierbaren Funktionen.) Die Navier-Stokes-Gleichungen fallen aber nicht in diese Kategorie und ob sie glatte Lösungen haben, ist bis heute offen.
Für den einfacheren Fall der inkompressiblen Navier-Stokes-Gleichungen hatte Olga Ladyzhenskaya in den 50er Jahren die Existenz glatter Lösungen bewiesen und die Gleichungen auch numerisch gelöst, also bewiesen, dass die mit der Finite-Differenzen-Methode berechneten Näherungslösungen gegen die richtigen Lösungen konvergieren. Der allgemeine Fall ist immer noch offen (Terence Tao hat bewiesen, dass verschiedene Ansätze grundsätzlich nicht funktionieren können) und numerische Simulationen sind sehr instabil.
Dass die Regularitätstheorie elliptischer partieller Differentialgleichungen sich nur sehr begrenzt verallgemeinern läßt, wurde erst in den 90er Jahren durch Arbeiten von Müller und Sverak klar, wo zu gewissen Differentialgleichungen Lipschitz-stetige, aber nicht differenzierbare schwache Lösungen gefunden wurden. Sie benutzten dabei Gromovs Methode der konvexen Integration. (Die wiederum auf Ideen von John Nash aufbaut, bekannt aus dem Hollywood-Film „A beautiful mind“.)
Für die Navier-Stokes-Gleichungen waren damals von Scheffer (und später mit einem verständlicheren Ansatz von Shnirelman) schwache Lösungen gefunden worden, die dem plötzlichen Auftreten turbulenter Strömungen ohne äußere Anregung entsprechen würden. Das sahen die Physiker eher als eine Warnung vor unphysikalischem Verhalten bei zu schwachen Lösungsbegriffen – man hielt das für mathematische Konstrukte, die kein physikalisch vorkommendes Verhalten beschreiben.
De Lellis und Szekelyhidi konnten diese Lösungen später in eine allgemeine Theorie einordnen, die sich auch auf andere Gleichungen anwenden ließ. Man hat bei den unphysikalischen Lösungen dieselbe Nichteindeutigkeit (oder Flexibilität) wie bei den von Gromov behandelten geometrischen Problemen, sobald dort die Regularitätsbedingungen hinreichend abgeschwächt werden.
Neben dem Ansatz über die Navier-Stokes-Gleichung gibt es auch eine in den frühen 40er Jahren von André Kolmogorow entwickelte statistische Theorie der Turbulenz. Berühmt ist vor allem sein 5/3-Gesetz. In einer turbulenten Strömung gibt es Wirbel, in denen der Fluß wiederum kleinere Wirbel hat. Kolmogorow nimmt an, dass kleinere Wirbel aus noch kleineren genauso zusammengesetzt wie größere aus kleineren, und kann daraus mit einem einfachen Skalierungsargument herleiten, dass die Energie zum Energiefluß ε und der Wellenzahl k sich gemäß der Formel E(k)~Cε2/3k-5/3 verhalten muß. Die Annahmen dieses Arguments sind freilich völlig unbewiesen.
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