Turbulenzen in der Sternennacht
Wenn ich Gott treffe, dann werde ich ihm zwei Fragen stellen: warum Relativität? Und warum Turbulenz? Ich glaube schon, dass er auf die erste Frage eine Antwort parat hat.
Dieses Zitat wird manchmal Werner Heisenberg zugeschrieben, häufiger Horace Lamb mit Quantenelektrodynamik statt Relativitätstheorie. Ob es wirklich so gesagt wurde oder nicht, gibt es jedenfalls korrekt wieder, wie wenig man das Wesen der Turbulenz verstand.
Dazu paßt, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern sich vor einigen Jahren mit den Bildern von Vincent van Gogh beschäftigt hat und feststellte, dass diese in seinen psychotischen Phasen Turbulenzen viel besser darstellen als in seinen gesunden Phasen. (Aragon, Naumis, Bai, Torres, Maini, “Turbulent luminance in impassed van Gogh paintings”, Journal of Mathematical Imaging and Vision 30, 2008)
Eine besonders gelungene Darstellung von Turbulenz findet sich in der “Sternennacht”, gemalt im Juni 1889 in der Nervenheilanstalt Saint-Rémy. Eine neue Arbeit von James Beattie und Neco Kriel (“Is the starry night turbulent?” https://arxiv.org/pdf/1902.03381.pdf) beschäftigt sich speziell mit den Turbulenzen in diesem Gemälde.
Unphysikalische Lösungen …
Mathematisch wird die Strömung inkompressibler Flüssigkeiten oder Gase der Viskosität durch die Navier-Stokes-Gleichungen
für die Geschwindigkeit u und den Druck p beschrieben. Für die 2-dimensionale Version dieser Gleichung bewies Olga Ladyschenskaja die Existenz von -Lösungen und auch die Konvergenz des Finite-Differenzen-Verfahrens, also die numerische Berechenbarkeit der Lösungen. Für den 3-dimensionalen Fall ist die Existenz von
-Lösungen bekanntlich eines der Millenium-Probleme des Clay-Instituts.
Jean Leray wird nachgesagt, er habe manche Zeit damit verbracht, Strudel und Wirbel in der Seine an den Pfeilern des Pont Neuf zu beobachten, und sei so zur Suche nach nichtglatten Lösungen der die Strömung linear-viskoser Flüssigkeiten beschreibenden Navier-Stokes-Gleichungen motiviert worden. (Diese Geschichte klingt jedenfalls weniger unplausibel als die ebenfalls kolportierte Geschichte, er sei durch jahrelanges Starren auf die Gitterstäbe im Kriegsgefangenenlager auf die Theorie der Spektralsequenzen gekommen.)
Jedenfalls fand er (zwei Jahre vor Sobolew und zehn Jahre vor Schwartz, also bevor es die entsprechenden mathematischen Begriffe überhaupt gab) L2-Funktionen, deren schwache Ableitung (im Distributionen-Sinn) wieder L2 ist und die die schwache Version der Gleichungen erfüllen, also
für alle -Funktionen
mit kompaktem Träger und verschwindender Divergenz. (Für differenzierbare f läßt sich diese schwächere Gleichung mittels partieller Integration aus der anderen herleiten.)
Er dachte sich diese schwachen Lösungen als Fortsetzung der glatten Lösung über die Singularitäten hinaus und bezeichnete sie als “turbulente Lösungen”: ihre Singularitäten sollten die Turbulenz beschreiben. Es ist bis heute nicht bekannt, ob die (eindeutigen) glatten Lösungen in endlicher Zeit Singularitäten ausbilden, oder ob hingegen die schwachen Lösungen eindeutig sind, was das Milleniumproblem lösen würde.
Wladimir Scheffer bewies dann in den 90er Jahren die Existenz einer schwachen Lösung mit den Eigenschaften
$latex u(x,t)=0\ \ \forall \mid t\mid >1,
\int\vert u(x,t)\vert^2dx=1\ \mbox{f\"ur fast alle}\ \vert t\vert <1, $
die dem plötzlichen Auftreten turbulenter Strömungen ohne äußere Anregung entsprechen. In der Physikliteratur sah man das eher als eine Warnung vor unphysikalischem Verhalten bei zu schwachen Lösungsbegriffen.
Das Banach-Tarski-Paradoxon wird manchmal als die "überraschendste Aussage aller Mathematik" bezeichnet. Wenn auf dem Gebiet der Strömungsmechanik ein Theorem diesen Titel beanspruchen kann, ist es das Scheffer-Shnirelman-Paradoxon, demzufolge eine Flüssigkeit (nicht viskos, inkompressibel) sich abrupt entscheiden kann, sich frenetisch zu rühren, ohne dass irgendeine äußere Kraft auf sie einwirkt. In der Tat ist diese Aussage vielleicht noch beunruhigender als die von Banach-Tarski, weil sie nicht einmal auf dem Auswahlaxiom beruht... (Cedric Villani)
... passen in eine mathematische Theorie ...
Bekanntlich sind schwache Lösungen elliptischer Differentialgleichungen stets analytisch. Schon für elliptische Systeme stimmt das nicht mehr, Müller und Sverak fanden in den 90er Jahren für gewisse Beispielklassen Lipschitz-stetige, nirgends stetig differenzierbare Lösungen, die sie mit Gromows Methode der konvexen Integration konstruierten.
Konvexe Integration baut auf Ideen von John Nash (bekannt aus dem Hollywood-Film „A beautiful mind“) und Nicolaas Kuiper auf, die in den 50er Jahren isometrische Einbettungen der runden 2-Sphäre in eine beliebig kleine Umgebung des Nullpunktes im euklidischen Raum konstruiert hatten.
Das ist eigentlich absurd.
Es gibt einen klassischen Satz von Cohn-Vossen, dass die (bis auf Isometrien des R3) einzige isometrische Einbettung S2--->R3 die Standardeinbettung ist. (Von Cohn-Vossen für analytische Einbettungen bewiesen, von Sacksteder später auf C2-Einbettungen verallgemeinert.) Und, sehr viel elementarer, für eine Einbettung der S2 in eine Kugel vom Radius muss in einem Extrempunkt die Krümmung mindestens
sein. Weil Krümmung nach dem Theorema Egregium eine Invariante unter Isometrie ist, kann es eigentlich keine solche Einbettung der Einheitssphäre geben.
Der Punkt mit beiden Argumenten, dem von Cohn-Vossen wie dem mit der Krümmung, ist, dass sie nur für C2-Einbettungen funktionieren. (Die Definition der Krümmung verwendet zweite Ableitungen der Metrik, für C1-Einbettungen ist die Krümmung nicht definiert.) Man würde wohl erwarten, dass dies ein technischer Punkt ist und man den Beweis auch ohne zweimalige Differenzerbarkeit noch verallgemeinern könnte. Das ist aber nicht der Fall, wie die von Nash und Kuiper konstruierten isometrischen C1-Einbettungen der Einheitssphäre in beliebig kleine -Kugeln zeigen.
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