Der folgende Artikel ist ein Gastbeitrag von Dr. Sören Hader aus Esslingen.
Der Reproduktionsfaktor hat in den letzten Wochen in der politischen Debatte an Bedeutung dazugewonnen, nachdem zuvor noch von Verdoppelungszeiten die Rede war.
Nun veröffentlicht das RKI regelmäßig ihre Berechnungen zum Wert R. Genauer gesagt, man gibt die mittlere Schätzung von R plus das Konfidenzintervall wieder. Aber gerade dieser mittlere Wert weist große Instabilitäten auf. Vor einiger Zeit änderte sich der Wert innerhalb von 48 Stunden von 1,0 auf 0,7. Eine tatsächliche Änderung des Verhaltens der Menschen kann nicht vorgelegt haben. Genauso konnte man wieder eine starke Änderung vermelden, am Mittwoch 0,65, Donnerstag 0,71 und Freitag 0,83.
Das RKI erläuterte auf einen ihrer Pressekonferenzen, dass man die Berechnungsgrundlage geändert hätte. Man verwendet zum einen ein Verfahren namens Nowcast, um den wahren Zeitpunkt der Infektion zu schätzen und führt eine Mittelung von je zwei 4-Tages-Abschnitten durch (vorher waren es zwei 3-Tages-Abschnitte). Wenn man sich die Kurve der Neuinfektionen anschaut, sieht man sehr deutlich ein Wochentagsmuster. Von Mittwoch bis Freitag sind die Zahlen immer höher. Man hat also eine periodische Zeitreihe mit der Periodenlänge = 7 Tage. Aus dem Grund sehe ich die besagte Glättung des RKI von 4 Tagen als suboptimal an.
Die Stochastiker der TU Ilmenau (meine alte Heimatuni) haben vor Wochen eine Seite herausgebracht, die ebenfalls R(t) berechnet. Man berechnet sie tagesweise neu, wodurch natürlich erhebliche Schwankungen entstehen. Wenn man aber die einzelnen R(t)-Schätzer über 7 Tage mittelt, bekommt man einen sehr glatten Verlauf.
https://stochastik-tu-ilmenau.github.io/COVID-19/germany
Ich bin am meisten überrascht und erstaunt, warum das RKI ein Verfahren verwendet, dass über eine supoptimale Glättung verfügt und dadurch stark streut. Fehlt es denen an mathematischer Expertise? Kaum vorstellbar, aber welche andere Erklärung gibt es dann? Übrigens waren diese Schwankungen schon Thema in den Medien. Ich kann nicht nachvollziehen, warum eine wichtige Bundesbehörde wie das Robert-Koch-Institut nicht mit Unis/Instituten kooperiert, um eine vernünftige und vor allem stabile Schätzung von R(t) zu liefern. Denn dieser Wert wird anschließend in der Politik kommuniziert und war u.a. Grundlage für politische Entscheidungen.
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