Wenn man einen Münzwurf fünfzig, hundert, zweihundert oder tausend Mal wiederholt, wird sich der relative Anteil der Zahlwürfe immer stärker bei 0.5 einpendeln – das ist das Gesetz der großen Zahlen. Wenn man diese Versuchsreihe mehrmals wiederholt, wird man natürlich stets denselben Effekt haben, aber jedesmal auf eine etwas andere Art und im Einzelfall kann es auch einmal größere Abweichungen geben.
Ähnlich ist es beim zentralen Grenzwertsatz: statistische Eigenschaften, die von vielen kleinen, unabhängigen Faktoren abhängen, sind normalverteilt. Aber manchmal hat man große Abweichungen und beispielsweise für Versicherungsmathematiker ist es wichtig, die Wahrscheinlichkeit dieser großen Abweichungen zu berechnen. Dieses Thema war erstmals in den 20er Jahren von dem Versicherungsmathematiker Filip Lundberg bearbeitet worden, dessen auf Schwedisch veröffentlichte Arbeiten aber erst durch Harald Cramér und seine Schüler bekannt wurden.
Cramér hatte in den 30er Jahren erste präzise Abschätzungen gefunden, wie schnell die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung oberhalb eines gegebenen Niveaus gegen Null geht. Er berechnete für unabhängige identisch verteilte Zufallsvariablen ξ1,…,ξn mit Mittel μ und Sn=ξ1+…+ξn den Grenzwert für x≥μ bzw.
für x≤μ, wobei φ* die Fenchel-Legendre-Transformierte der zu ξi assoziierten kumulantenerzeugenden Funktion
bezeichnet. Es dauerte aber noch dreißig Jahre bis S. R. Srinivasa Varadhan die zugrundeliegenden Prinzipien entdeckte.
Varadhan hatte in Madras Statistik studiert und war von älteren Studenten überzeugt worden, sich statt des für ihn unbefriedigenden Themas der statistischen Qualitätskontrolle besser der rein mathematischen Theorie der Wahrscheinlichkeiten zu widmen. Nach der Promotion in Kalkutta, für die Andrei Kolmogorow ein enthusiastisches Gutachten geschrieben hatte, ging er nach New York. Bei der Analyse gewisser partieller Integralgleichungen stieß er dort auf Integrale der Form mit auf einer e-n konzentrierten Maßen Pn, für deren Auswertung er seine vereinheitlichte Theorie großer Abweichungen entwickelte.
Für das Prinzip der großen Abweichungen betrachtet man eine beliebige Teilmenge . Man hat beispielsweise für eine solche Menge obere und untere Abschätzungen für den Abfall der Wahrscheinlichkeit, dass die Summe der Zufallsvariablen in A liegt: der Limes Inferior von
ist mindestens das Negative des Infimums von
über das Innere von A, der Limes Superior ist höchstens das Negative des selben Infimums über den Abschluß von A. Das von Varadhan betrachtete allgemeine „Prinzip der großen Abweichungen“ nimmt dieselben Ungleichungen für eine allgemeine Familie von Zufallsvariablen ξn (statt
) und geeignete Funktionen I(x) (statt
) an. Varadhan fand die allgemeine Fassung von Cramérs Abschätzungen (Varadhan‘s Lemma), falls ein solches Prinzip der großen Abweichungen gilt.
Mit seiner Arbeit “Asymptotic probability and differential equations” und einige Jahre danach mit seiner überraschenden Lösung des Polaronproblems der Quantenfeldtheorie sowie in späteren gemeinsamen Arbeiten mit Monroe Donsker formte Varadhan eine allgemeine Theorie großer Abweichungen, die weit mehr war als eine quantitative Verbesserung der Konvergenzraten. Sie beantwortete die Frage nach dem qualitativen Verhalten stochastischer Systeme, die eine große Abweichung erleben. Er entwickelte ein Variationsprinzip, das das unerwartete Verhalten durch ein neues probabilistisches Modell erklärt, mit dem eine gewisse Entropiedistanz gegenüber dem ursprünglichen Wahrscheinlichkeitsmaß minimiert wird.
Die Theorie war eine technische Kombination vieler mathematischer Gebiete, sie kombinierte Wahrscheinlichkeitstheorie mit konvexer Analysis, nichtlinearer Optimierung, Funktionalanalysis und partiellen Differentialgleichungen. Die Theorie großer Abweichungen ist viel subtiler als die Theorie klassischer Grenzwertsätze. Sie fand später eine überraschende Anwendung in der Beschreibung der Umgebung der Spur einer Molekularbewegung, der sogenannten Wiener Wurst.
Bild: https://www.maa.org/book/export/html/134828
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