Wikipedia hat ein Vermögen von 180 Millionen Dollar und nimmt jährlich einen zweistelligen Millionenbetrag an Spenden ein. Für den laufenden Betrieb wird nur ein Bruchteil dieses Geldes benötigt, deutlich weniger als eine Million im Jahr. Mit dem Rest werden die Wikimedia Foundation WMF sowie deren nationale Ableger wie WMDE, WMAT und WMCH finanziert. Aus Sicht der meisten Wikipedia-Autoren sind diese Organisationen ein überflüssiger Wasserkopf, der der Wikipedia nichts nutzt, aber jedenfalls auch nicht schadet. Im Licht neuer Erkenntnisse wird man diesen Standpunkt wohl überdenken müssen.
In der Sendung von Jan Böhmermann ist am Freitag einiges Kritische über Wikipedia gesagt worden. Vieles davon war seit vielen Jahren bekannt und manches war auch schon lange nicht mehr aktuell. Neu waren allerdings die „Enthüllungen“ in den letzten fünf Minuten der Sendung: ein Mitarbeiter Böhmermanns hatte sich gegenüber dem sehr einflußreichen WMDE-Aktivisten Olaf Kosinsky als Vertreter der Kleinpartei Volt Deutschland ausgegeben und ihm je 100 Euro dafür versprochen, wenn er die Begriffe „junge, moderne, queerzentralistische Bewegung – innovationsbasierte Progressivdemokratie – pandeutsche Transparenzpflicht“ in ihrem Wikipedia-Artikel unterbringt.
Olaf Kosinsky hat(te) in der Wikipedia eine Reihe von Funktionen. Er war bis vor einigen Wochen Mitglied des Support-Teams, das unter anderem für die Verifizierung von Firmenaccounts zuständig ist. (Wenn eine Firma oder Einzelperson in der Wikipedia ihre eigenen Artikel bearbeiten, aktualisieren oder auch neu anlegen will, kann sie sich dort als offizieller Account der Firma oder Einzelperson verifizieren lassen.) Es war schon lange vermutet worden, dass er diese Position benutzt, um „Geschäftskontakte“ anzubahnen, also diesen Firmenvertretern anzubieten, dass ER gegen Bezahlung ihre Artikel schönschreibt. Beweise für diese Vermutung gab es bisher nicht.
Vor allem ist Olaf Kosinsky in der Wikipedia aber bekannt als Organisator der sogenannten Parlamentsprojekte. Bei diesen besuchen Wikipedianer für einige Tage einen Landtag oder Bundestag, nehmen dort Fotos der Abgeordneten auf, die dann deren Wikipedia-Artikel dekorieren, und führen mit den Abgeordneten Gespräche über das freie Wissen und dessen politische Bedeutung. In Wirklichkeit geht es bei diesen Gesprächen häufig darum, dass die Politiker Einfluß auf die Gestaltung ihrer Personenartikel zu nehmen versuchen, etwa die Kritikabschnitte entschärft oder unliebsame Informationen aus dem Artikel gelöscht haben wollen. Auch hier war immer wieder vermutet worden, dass Kosinsky und andere diese Gespräche zur „Geschäftsanbahnung“ nutzen, um Artikel gegen Bezahlung verändern zu lassen, auch hier hatte es für diese Vermutungen nie Beweise geben.
Problematisch sind die von WMDE und WMAT finanziell geförderten Fotosessions in Parlamenten auch aus einem anderen Grund: sie können für Abmahnfallen verwendet werden, die Formulierung ihrer Teilnahmebedingungen läßt das ausdrücklich zu. Kurt Kulac, langjähriger Präsident der Wikimedia Österreich und im Nebenberuf Rechtsanwalt, verklagt im Auftrag von Kosinsky und anderen Leute, die als gemeinfrei deklarierte Bilder aus der Wikipedia verwenden, wenn sie die gut versteckten und teils sehr speziellen Nutzungsbedingungen nicht einhalten. Nutzer werden so gezielt in die Irre geführt: man erweckt den Eindruck, die Bilder seien frei verwendbar, was sie auch sind, man hat versteckt aber spezielle Bedingungen für die Nennung des Urhebers formuliert und bei deren Nichteinhaltung wird dann geklagt. Die vom Beklagten zu zahlenden, in der Regel vierstelligen Anwaltskosten teilt sich Magister Kulac dann mutmaßlich mit den Klägern.
Abmahnende Fotografen bilden in der Wikipedia eine große und äußerst gut organisierte Gruppe, die jeden Versuch, ihr Geschäftsmodell in Frage zu stellen, sehr effektiv zu unterbinden versteht. Zuletzt wurden 2017 zwei Meinungsbilder (so heißen Abstimmungen in der Wikipedia) zerredet: Keine Bilder im Artikelnamensraum von direkt abmahnenden Fotografen und drei Monate später Abmahnpraxis.
Eine gewisse Bekanntheit in juristischen Fachkreisen dank besonders dreister Forderungen hat der Fotograf Thomas Wolf erworben, zu seinen Prozessen findet man zahlreiche Informationen auf verschiedenen Webseiten. Auch Ralf Roletschek hat es mit solchen Aktivitäten zu einer gewissen Internetprominenz gebracht. Roletschek, der unter seinem richtigen Namen in Wikipedia angemeldet ist, dort aber als M@rcela signiert, ist auch stets dabei, wenn innerhalb der Wikipedia über Abmahnungen diskutiert wird, meist mit ausgesprochen dummdreisten Argumenten in der Art „gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“. So plump gehen die meisten der Abmahnwikipedianer allerdings nicht vor, viele haben neben ihren Ämtern bei WMDE und WMAT auch Funktionen oder zumindest informellen Einfluß innerhalb der Community, der ebenfalls internetbekannte Autor „Steschke“ war zum Beispiel viele Jahre Administrator. In Diskussionen wie den oben verlinkten (und zahlreichen anderen) ist es immer wieder dieselbe Gruppe von einigen Dutzend Wikipedianern, die jedwede Maßnahmen gegen die Abmahnfallen zu unterbinden versteht. Immerhin ist es aber in einigen wenigen Fällen mutigen Wikipedianern gelungen, besonders häufig für Abmahnungen verwendete Bilder (Schloß Neuschwanstein und Brandenburger Tor) aus den Artikeln zu entfernen.
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