Der Abelpreis (mit gut 106$ der höchstdotierte Mathematikpreis) geht dieses Jahr an Dennis Sullivan für seine Beiträge zur Topologie.

Der Abelpreis wird jährlich von der Norwegischen Akademie der Wissenschaften vergeben. Er gilt als eine Art Ersatz dafür, daß es keinen Nobelpreis für Mathematik gibt. Über die Gründe, warum Nobel keinen Mathematik-Nobelpreis stiftete, gibt es viele anekdotische Erklärungen, die aber nach allgemeiner Meinung alle in das Reich der Fabel gehören.

Die Verleihung findet am 24. Mai in Oslo statt.

Sullivan kombinierte in seiner Dissertation von 1966 die von Browder und Novikov zur Klassifikation höher-dimensionaler Mannigfaltigkeiten entwickelten Chirurgie-Methoden. Für die Strukturmenge S(M), also die Menge der Diffeomorphismustypen homotopieäquivalent zu einer gegebenen Mannigfaltigkeit M, bewies er im einfach zusammenhängenden 4k-dimensionalen Fall (k>1) die Chirurgiesequenz 0—>S(M)—>[M,G/O]—>Z, wobei G/O die Homotopiefaser der Abbildung  von BO nach BG ist. Für den nicht einfach zusammenhängenden Fall wurde das dann von Novikov und Wall mit Hilfe der L-Gruppe des Gruppenrings der Fundamentalgruppe zur exakten Chirurgie-Sequenz verallgemeinert.

Weiter entwickelte Sullivan 1970 das Konzept der Lokalisierung topologischer Räume an Primzahlen: ein Raum ist lokal, wenn seine Homotopiegruppen Zp-Moduln sind; zu jedem einfach zusammenhängenden Raum kann man seine Lokalisierung definieren mittels einer mit Faserungen und Kofaserungen verträglichen Konstruktion. In den 70er Jahren entwickelte er dann die rationale Homotopietheorie, wo man alle Primzahlen ignoriert, d.h. jedem Raum X einen anderen Raum zuordnet, dessen Homotopiegruppen denen von X nach Tensorieren mit Q entsprechen. Mit Deligne, Griffiths und Morgan bewies er, dass der reelle Homotopietyp von Kähler-Mannigfaltigkeiten durch ihre Kohomologie festgelegt wird.

In der Theorie dynamischer Systeme schlug er ein Wörterbuch vor, in dem die Eigenschaften Kleinscher Gruppen (diskreter Gruppe von Isometrien des hyperbolischen 3-Raumes) jeweils den Eigenschaften komplexer dynamischer Systeme (den Iterationen einer rationalen Abbildung) entsprechen sollten. Er bewies, dass es für (nichtlineare) rationale Abbildungen keine wandernden Gebiete in der Fatou-Menge gibt. Mit Methoden der komplexen Dynamik gab er auch einen konzeptuellen Beweis für die Universalität der Feigenbaum-Konstante. In der 3-dimensionalen hyperbolischen Geometrie entwickelte er eine „Ergodentheorie“ im Unendlichen“ und bewies eine Verallgemeinerung von Mostows Starrheitssatz für Mannigfaltigkeiten unendlichen Volumens.

Ende der 90er Jahre entwickelte er mit Chas die unter dem Namen String-Topologie bekanntgewordenen Produkte auf der Homologie des freien Schleifenraums.

Arne B. Sletsjøe hat zu den Arbeiten des Preisträgers allgemeinverständliche Erklärungen geschrieben:
..for his groundbreaking contributions to topology in its broadest sense..
An algebraic model for topological spaces
Non-wandering domains

Informationen zur Geschichte des Abelpreises findet man hier. Die bisherigen Preisträger seit 2003 sind:
2003 Jean-Pierre Serre (Frankreich): Homotopietheorie, Algebraische Geometrie
2004 Michael Atiyah (GB), Isadore Singer (USA): Globale Analysis
2005 Peter Lax (USA): Partielle Differentialgleichungen, Streutheorie
2006 Lennart Carleson (Schweden): Harmonische Analysis, Dynamische Systeme
2007 Srinivasa Varadan (Indien): Wahrscheinlichkeitstheorie, Große Abweichungen
2008 Jacques Tits (Belgien), John Thompson (USA): Gruppentheorie
2009 Michael Gromov (Frankreich): Riemannsche und Symplektische Geometrie, Geometrische Gruppentheorie
2010 John Tate (USA): Algebraische Zahlentheorie, Elliptische Kurven
2011 John Milnor (USA): Differentialtopologie
2012 Endre Szemeredi (Ungarn): Graphentheorie
2013 Pierre Deligne (Belgien): Algebraische Geometrie
2014 Yakov Sinai (Russland): Dynamische Systeme
2015 John Nash, Louis Nirenberg (USA): Partielle Differentialgleichungen
2016 Andrew Wiles (GB): Algebraische Zahlentheorie, Elliptische Kurven
2017 Yves Meyer (Frankreich): Harmonische Analysis
2018 Robert Langlands (Kanada): Darstellungstheorie, Zahlentheorie
2019 Karen Uhlenbeck (USA): Geometrische Analysis
2020 Hillel Furstenberg (Israel), Grigori Margulis (USA): Ergodentheorie
2021 László Lovász (Ungarn), Avi Wigderson (Israel): Diskrete Mathematik, Theoretische Informatik

Kommentare (4)

  1. #1 noch'n Flo
    Schoggiland
    24. März 2022

    Auf der SB-Übersichtsseite steht als Vorschau zu diesem Artikel

    mit gut 106$ der höchstdotierte Mathematikpreis

    “Wow!” habe ich mir gedacht. Als Mathematiker kann man ja so richtig reich werden. 😛

  2. #2 Casisto
    25. März 2022

    @noch’n Flo
    genauso ging es mir auch.
    So oder so, Mathematik betreibt man zur Freude an der Mathematik, sagten mit bisher alle Mathematiker die ich traf. Da das Wort bisher unterrepräsentiert ist: Mathematik!

  3. #3 noch'n Flo
    Schoggiland
    26. März 2022

    Mathematik!

  4. #4 Thilo
    26. April 2022

    Ein Artikel bei der Indischen Mathematischen Gesellschaft: https://arxiv.org/pdf/2204.11496.pdf