Normalerweise bin ich nicht auf Facebook aktiv, auch nicht als passiver Leser, weil es dort kaum Diskussionen zu Themen gibt, die mich interessieren würden. Es gibt nur wenige von Mathematikern betriebene Facebook-Seiten und noch weniger Seiten, wo eine größere Zahl von Mathematikern sich an Diskussionen beteiligen würde. Eine Ausnahme ist die Seite von Alexei Bondal, die von zahlreichen Mathematikern (wenn auch eher nicht aus mich interessierenden Fachgebieten) frequentiert wird. Ich beobachte die Diskussionen dort seit einem Hinweis im Februar und bin seitdem gleichbleibend irritiert über die mehr oder weniger unverhohlene Bewunderung, mit der dort nicht nur zahlreiche russische, sondern durchaus auch deutsche und westeuropäische Mathematiker über die militärischen Erfolge Russlands sprechen.
Genauer gesagt wechseln die Themen dort je nach Kriegslage, mal hört man Begeisterung über die Erfolge Rußlands, mal einen Willen zur Verständigung mit dem Westen. Anfang Mai, als die russsische Offensive zumindest außerhalb des Donbass gescheitert schien, gab es Diskussionen, in denen das Wegbrechen der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit bedauert und zu einer Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Beziehungen aufgerufen wurde, inzwischen dominieren aber wieder Artikel, in denen es um die „Befreiung“ der Ukraine geht.
Am 10. Mai beispielsweise erschien dort ein Artikel mit einem Zitat David Hilberts
Jetzt hören mir meine jungen Freunde zu. Es ist nichts Neues daran, dass Sie in der psychisch schwierigen Kriegssituation die Selbstkontrolle verlieren und die Diskriminierung der Mathematiker auf der Seite des Konflikts unterstützen, die Ihnen nicht gefällt. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es zwei internationale Mathematikerkongresse, zu denen deutsche Mathematiker nicht eingeladen waren.
Als der Wahnsinn nachgelassen hatte, hielt ein deutscher Mathematiker 1928 eine Rede auf dem Kongress in Bologna. Hier ist, was er gesagt hat. Sie werden zustimmen, wenn Sie ein echter Mathematiker und keine langweilige Marionette sind, die hysterischer Propaganda unterliegt – solche habe ich in sowjetischer Zeit im Überfluss gesehen.
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Ich freue mich dass hier seit langer schwerer Zeit alle Mathematiker der Welt vertreten sind wie es sich gehört und wie es zum Gedeihen unsrer geliebten Wissenschaft nöthig ist. Bedenken wir dass wir als Mathematiker auf der höchsten Stufe und höchsten Höhe der Kultur des strengen Wissens stehen. Wir haben keine Wahl uns anders zu stellen als auf diesen höchsten Standpunkt denn alle Schranken, insbesondere nationale, widerstreben aufs Aeusserste dem Wesen der Mathematik. Es ist ein vollkommnes Missverständniss Unterschiede, oder gar Gegensätze nach Völkern oder Menschenrassen zu construiren, die Gründe mit denen man das versucht hat sind sehr fadenscheinig. Die Mathematik kennt keine Rassen. … Für die Mathematik ist die ganze Kulturwelt ein einziges Land.
David Hilbert
(Der Text vor den Sternchen ist von Bondal, der danach ein Zitat Hilberts.)
Zu diesem Zitat gibt es einiges zu sagen. Zuerst stammt es aus dem Jahr 1928, also zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, nicht etwa während eines noch laufenden Eroberungskrieges. Tatsächlich ist es so, dass David Hilbert als einziger angefragter Mathematiker im Oktober 1914 den offenen Brief „An die Kulturwelt“ nicht unterschrieb, in dem sich die deutsche Professorenschaft mit der deutschen Armee (und ihren damals in Belgien begangenen Kriegsverbrechen) solidarisierte. Diese Verweigerung gab ihm dann natürlich auch die moralische Autorität, um sich 14 Jahre später an führender Stelle für die Wiederaufnahme der deutschen Mathematiker in die wissenschaftliche Gemeinschaft einzusetzen.
Abgesehen davon ist es auch so, dass Hilbert die zitierte Rede 1928 gar nicht gehalten hat. Das Zitat stammt aus einem in Hilberts Nachlaß gefundenen Entwurf, den er aber letztlich nicht fertig ausgearbeitet und dann auf dem ICM in Bologna auch nicht gehalten hat. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Bekannt ist jedenfalls, dass die deutsche Teilnahme am ICM damals auf Widerstand sowohl französischer als auch deutscher Nationalisten stieß, Bieberbach etwa sprach von einem „rettungslos kompromittierenden Kongress“, weil man durch die Teilnahme dort die beiden vorhergehenden (unter Ausschluß der Deutschen durchgeführten) Kongresse legitimieren würde.
Unabhängig davon, ob diese Rede so gehalten wurde, ist der Vergleich Bondals mit Hilbert jedenfalls völlig unpassend. Hilbert hatte sich nicht während des Krieges mit der deutschen Armee und ihren Kriegsverbrechen solidarisiert, sondern er hatte sich zehn Jahre nach dem verlorenen Krieg für die Wiederaufnahme der deutschen Wissenschaft auf dem internationalen Mathematikerkongress eingesetzt.
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