Warum man dann nicht gleich immer die mtDNA für forensische Analysen untersucht? Das hat zunächst rein praktische Gründe: eine Sequenzierung ist aufwendiger, schwieriger und teurer als eine STR-Analyse. Die mtDNA hat zudem entscheidende Nachteile, die ihre forensische Brauchbarkeit deutlich einschränkt: sie ist ein Haplotyp, d.h. sie wird, so wie sie ist, sozusagen en bloc, weitervererbt, ohne daß Rekombination stattfindet und somit die für die enorme Diskriminierungsfähigkeit der STR-DNA-Profile erforderliche kombinatorische Vielfalt entstehen kann. Außerdem wird sie stets und ausschließlich über die mütterliche Linie vererbt: die Kinder einer Mutter erhalten immer das komplette mitochondriale Genom der Mutter, die mtDNA des Vaters wird nie vererbt*. Das bedeutet, daß alle Personen, die in mütterlicher Linie verwandt sind, theoretisch die gleiche mtDNA-Sequenz haben, was eine forensische Ermittlung erheblich erschweren kann, wenn für eine Tat beispielsweise auch der Bruder und/oder die Schwester eines Tatverdächtigen in Frage kommt, man aber nur das mtDNA-Profil als Vergleichsbasis hat. Hier ein Beispiel aus einem hypothetischen Mordfall:

table

Die mtDNA an der Mordwaffe ist identisch mit der des Tatverdächtigen: sie zeigt dieselben Abweichungen von der Referenzsequenz, z.B. ein “G” statt einem “A” an der Position 73. Der Bruder des Tatverdächtigen, der auch als Täter in Frage kommt, hat jedoch das gleiche mtDNA-Profil

 

 

 

 

 

 

 

Aber selbst wenn nur eine einzige Person in Frage kommt und ihr mtDNA-Profil mit demjenigen aus der Spur an einer Mordwaffe übereinstimmt, besteht immer noch die Möglichkeit, daß die Übereinstimmung zufällig ist, weil manche mtDNA-Haplotypen sogar relativ häufig in der Bevölkerung bzw. bestimmten Subpopulationen vorkommen. Daher ist die mtDNA in forensisch-genetischen Ermittlungen immer eher ein letzter Rettungsanker, kann aber immerhin sicher den Ausschluß einer verdächtigen Person von der Täterschaft begründen, wenn deren mtDNA-Profil nämlich von dem eines entscheidenden Asservates eindeutig abweicht.

Aber auch in der Abstammungsbegutachtung, einer weiteren Routinedisziplin der forensischen Genetik, kann die mtDNA nützlich sein, indem man mit ihr eine mütterliche Linie verfolgen kann. Das kann hilfreich sein, wenn man es mit komplexeren als den üblichen Fragestellungen etwa nach der Vaterschaft eines Mannes zu einem Kind zu tun hat. Ein Beispiel für eine solche wären zwei Menschen, die wissen wollen, ob sie Halbgeschwister sind und von derselben Mutter abstammen oder unverwandt sind. Mit den standardmäßig verwendeten STR-Systemen gelangt man in solchen Fällen häufig nicht zu einer befriedigenden Antwort. Bezieht man die mtDNA ein, erhält man bei nicht übereinstimmenden Profilen einen sicheren Ausschluss einer gemeinsamen Mutter und bei übereinstimmenden Profilen einen weiteren mehr oder weniger starken Hinweis auf eine Halbgeschwisterschaft. Wie stark der Hinweis ist, hängt von der Seltenheit des gemeinsamen mtDNA-Haplotypen ab, die man unter Zurateziehung öffentlicher Datenbanken wie EMPOP ermitteln oder aber zumindest abschätzen kann.

Ein weiteres Beispiel für eine komplexe Abstammungsbegutachtung wäre folgendes: Eine Großmutter “X” möchte wissen, ob ihre Enkelin “Z” von ihrer Tochter “A”, die sie mit einem anderen Mann als ihren Sohn “Y” gezeugt hat und die demnach eine Halbschwester von “Y” ist, abstammt oder von “B”, die mit ihr, der Großmutter zwar unverwandt, jedoch eine Halbschwester von “Y” ist und mit diesem einen gemeinsamen Vater hat. Weder A noch B sind jedoch verfügbar für einen Test und da die Beteiligten zu einer sehr kleinen, nach außen quasi isolierten ethnischen Gruppe gehören, die Verhältnisse in dieser Familie sehr “unübersichtlich” sind und laut Y durchaus auch B als Mutter von Z in Frage kommt, ist das auf STR-Systemen beruhende Ergebnis der Begutachtung, in die nur X, Y und Z einbezogen wurden, nicht zufriedenstellend.

stammbaum

blaue Personen haben einen gemeinsamen mtDNA-Haplotypen; gestrichelte Linien deuten eine mögliche aber nicht bestätigte Verwandtschaft an

 

Hier kann die mtDNA helfen: wenn Z wirklich über A von X abstammt, muß Z eine identische mtDNA wie X haben. Dies war nicht der Fall, also konnte A als Mutter ausgeschlossen werden.  Aber auch für Fragestellungen, die über konkrete Abstammungsverhältnisse weit hinaus gehen und die Genealogie über zahlreiche Generationen betreffen, spielt die mtDNA eine wichtige Rolle. So kann mtDNA-Haplotypen so weit zurückverfolgen, daß man sogar von einer mitochondrialen Eva spricht.

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Kommentare (9)

  1. #1 Ludger
    29/01/2015

    Ich habe mal einen Vortrag von Martin Bormann junior (Details siehe Wikipedia) gehört, bei dem es darum ging, welche Probleme er als Nachfahre eines Naziverbrechers hatte. Dabei erwähnte er, die Umstände der Auffindung und Identifizierung seines Vaters.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Bormann#N.C3.BCrnberger_Prozess_und_Todesumst.C3.A4nde
    Einige Jahre später half der Zufall: Bei Erdkabelarbeiten der Post am 7./8. Dezember 1972 wurden in der Nähe des Lehrter Bahnhofs nahe dem früheren Landesausstellungspark zwei Skelette im Boden entdeckt, die durch die Aussagen des damaligen (1945) Bestatters und durch die anschließenden genauen Untersuchungen durch Gerichtsmediziner, Zahnärzte (mittels forensischer Odontologie) und Anthropologen schnell Martin Bormann und Ludwig Stumpfegger zugeordnet werden konnten. An beiden Schädeln wurden zwischen den Zähnen Glassplitter von Blausäureampullen gefunden. Für Bormanns Skelett wurde die Identität 1998 durch eine DNS-Analyse bewiesen.[5][6] Bormanns Überreste wurden 1999 verbrannt, seine Asche in der Ostsee beigesetzt.[7]

    Bei der genetischen Untersuchung sei Blut einer alten Tante verwendet worden, die über die mütterliche Linie mit seinem Vater verwandt gewesen sei.

  2. #2 stboec
    30/01/2015

    Sehr interessanter Artikel! Der Exkurs hat mich animiert, nochmal in einen Review zu schauen, den ich vor einiger Zeit gelesen habe (Mishra & Chan, 2014, NRMCB). Dort steht, dass Mäuse, die heteroplasmatisch für unterschiedliche mitochondriale Haplotypen waren, Auffälligkeiten in Sachen Metabolismus und Verhalten zeigten. Wenn ich das richtig verstanden habe, würde man beide Haplotypen als “wild-typisch” bezeichnen … wenn die Haplotypen homoplasmatisch vorliegen, geht’s den Tieren nämlich recht gut. Könnte sein, dass es was mit Co-Evolution zu tun hat und dass die Haplotypen nicht zusammenpassen.
    Dass Mitochondrien irrtümlich als fremd erkannt werden, glaube ich nicht. In Säugetieren sind paternale Mitos mit Ubiquitin markiert, was u.a. als Signal zum autophagischen Abbau dient (in C. elegans ist das ja anders, wie die Sato & Sato Studie gezeigt hat). Ich vermute, dass das selektierter Mechanismus ist und nichts mit nem Irrtum zu tun hat.
    Ein weiterer Prozess, der die Vererbung paternaler mtDNA verhindert, ist aus Drosphila bekannt. Dort wird bereits vor der Befruchtung die mtDNA in den Spermien abgebaut (noch nicht die Mitochondrien selbst).

    Ich würd mich freuen, mehr über die Verwendung von Mitos in der Forensik zu lesen! 🙂

  3. #3 Cornelius Courts
    30/01/2015

    @stboec: “Dass Mitochondrien irrtümlich als fremd erkannt werden, glaube ich nicht.”

    Warum nicht? Selektive Autophagie wird in somatischen Zellen durchaus auch als Immunmechanismus zur Abwehr invasiver Bakterien eingesetzt. s. z.B. hier: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21575909
    Könnte also durchaus der Fall sein, daß es da das fremde Mitochondrium erwischt…

    “Ich würd mich freuen, mehr über die Verwendung von Mitos in der Forensik zu lesen!”

    Die Grundlagen habe ich ja jetzt schon mal erläutert und einige Beispiele (J.t. Ripper und Schlangengift) hatte ich auch schon im Blog. Ich werde aber die Augen offen halten nach interessanten Anwendungen bzw. Fallberichten und dann mal wieder was dazu schreiben 🙂

  4. #4 stboec
    30/01/2015

    @Cornelius: “Warum nicht?”
    Weil es offensichtlich ein Signal gibt, dass es der Zelle erlaubt, zwischen maternalen und paternalen Mitos zu unterscheiden. Die maternalen bleiben erhalten, die paternalen werden abgebaut. Du schreibst ja von selektiver (!) Autophagie. In dem von Dir zitierten Fall Xenophagie, im Fall der Mitos von Mitophagie. Und dafür braucht’s ein spezifisches Signal (in beiden Fällen Ubiquitin), an das Autophagie-Rezeptoren binden und den Abbau einleiten.
    Die Zellen “wollen” das so. Ich kann da einfach nichts von nem Irrtum erkennen. Vielleicht versteh ich Dich da aber falsch und betreib hier nur Wortklauberei.

  5. #5 Uli
    02/02/2015

    So sehr ich mich anstrenge, bei dem hypothetischen Mordfall sehe ich keine Unterschiede zwischen den Brüdern… 🙁

  6. #6 Claudia
    https://cloudpharming.blogspot.de
    02/02/2015

    “Der Bruder des Tatverdächtigen, der auch als Täter in Frage kommt, hat jedoch das gleiche mtDNA-Profil” –> vielleicht liegt’s daran

  7. #7 Cornelius Courts
    02/02/2015

    @Uli: wie Claudia schon angedeutet hat, ist diese Tabelle zur Illustration der EINSCHRÄNKUNGEN der mtDNA in der Fallarbeit gedacht. Kinder derselben Mutter haben identische mtDNA, deshalb muß man mit Einschlüssen via mtDNA sehr vorsichtig sein.

  8. #8 JW
    04/02/2015

    Und was machen wir bei den in GB jetzt aktuellen Kindern mit 2 Müttern; sprich nach Mito-Spende. Dann haben wir in der forensischen Genetik ein (quantitatv kleines) Problem. Dazu dann die Frage, warum kein väterliches Mito in die Eizelle injizieren?Wird das zerstört?

  9. #9 Cornelius Courts
    04/02/2015

    @JW: “sprich nach Mito-Spende. Dann haben wir in der forensischen Genetik ein (quantitatv kleines) Problem”

    stimmt beides. Daß es ein Problem ist und daß es klein ist. Viel interessanter sind Empfänger von Knochenmarkspenden, deren Blut komplett das DNA-Profil der Spender enthält.