Die Frage bezieht sich eigentlich auf jede Art von schriftlichem Test, also jene Form der Leistungserhebung, in der innerhalb einer vorgegebenen (und typischer Weise knapp bemessenen) Zeit ein Katalog von zumeist fachspezifischen Aufgaben abzuarbeiten ist – ob in der Grundschule oder beim Einstellungsverfahren ist da eigentlich egal. Ich benutze den Begriff “Klausur” nur deshalb, weil ich vermute, das die meisten, die hier mitlesen, damit die akustesten Erfahrungen haben.

Und ehe ich meine Antwort – die, ganz unzweideutig, “ja” lautet – näher begründe, will ich erst mal in meine eigene Schul- und Studienzeit zurückgehen. In der Schule hatte ich mit diesen “Schulaufgaben” und “Kurzarbeiten” (wie die lange bzw. kurze Form dieser Tests zu meiner Zeit genannt wurden) eher keine Probleme; Tests fielen mir (abgesehen von Mathematik in der 6. Klasse, wofür ich den damaligen Lehrer hunderprozentig verantwortlich mache) generell leicht, und sie hatten den Vorteil, dass sie schneller absolviert waren als die oft langen Hausarbeiten/Hausaufgaben. Doch schon damals, und das ist nun ein paar Jahrzehnte her, hatte ich das Gefühl, dass das nicht die beste Art sein kann, die Fähigkeiten eines Menschen zu testen – zu viele meiner Freunde, die ich nie für intellektuell schlechter und oft sogar für intellektuell überlegen hielt, hatten mit diesen Test ihre Probleme und mit dementsprechend schlechten Noten zu kämpfen.

Das änderte sich zwar ein bisschen, zumindest von der Philosophie her, als bei uns in Bayern die ersten Versuche mit neuen Oberstufenformen getestet wurden, die zumindest an meiner Schule in Schweinfurt als “Kollegstufe” bezeichnet und in verschiedenen Ausprägungen über Jahre hinweg modifiziert wurden. Aber das Prinzip hier war zumindest schon mal, dass der Impakt der Abiturprüfung gemildert wurde – in die Abiturnote gingen auch alle Einzelleistungen im Verlauf der 12. und 13. Klasse (die so nicht mehr existierten, sondern in Semester 1, 2, 3 und 4 unterteilt waren) kumulativ ein, was dann mit den mündlichen und schriftlichen Prüfungen, deren Gewicht damit auf ein Drittel reduziert wurde, zu einer Gesamtpunktzahl (maximal 900, wenn ich mich richtig erinnere) addiert und dann nach einem Schlüssel, ganz am Ende des Prozesse (und auch am Ende des Zeugnisses, zur großen Verwirrung aller potenziellen Arbeitgeber, bei denen ich mich mit diesem Zeugnis bewarb) in den landesüblichen Notendurchschnitt von 1 bis 6 umgerechnet.

Schon damals schien also eine gewisse Einsicht zu bestehen, dass es besser ist, Schülerinnen und Schüler – und ich dehne das mal ganz generell auf alle Menschen aus – nach ihrem langfristigen Leistungspotential zu beurteilen, als Entscheidungen von einzelnen Tagesformen abhängig zu machen.

Doch diese Einsicht ging offenbar nicht so weit, diese ad-hoc-Ermittlung andgültig in die Mülltonne der Pädagogik zu treten. An der Uni musste ich damals noch Klausuren schreiben, und auch meine heutigen Studentinnen und Studenten – ebenso wie mein Sohn in der High School – müssen nach wie vor solche Tests gegen die Uhr schreiben. Und da frage ich mich nun: Warum eigentlich?

Und diese Frage ist wirklich sehr ernst gemeint. Was verrät das Testergebnis über die Person, die den Test absolviert? Wer jetzt irgend was von “Wissen” sagt, den/die frage ich: Welches Wissen? Lexikalisches Wissen ist sowieso ein Anachronismus, besser: ein Atavismus aus Zeiten, als es noch kein Internet, kein Google, kein Wikipedia, aber auch kein Jstor, kein Wolfram Alpha, oder auch keine Siri oder verwandte Dienste gab. Ich zitiere hier mal aus einem Interview, das ich kürzlich für BILANZ mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller geführt hatte und in dem er, zwar lachend, aber dennoch mit vollem Ernst sagte:

Da wächst man mit dem Ehrgeiz auf, eine gute Ausbildung zu kriegen, Wissen anzusammeln, das man weitergeben kann – und dann kommt Siri. Und man braucht all das Wissen gar nicht mehr, und man braucht auch nicht mehr mit anderen Menschen zu reden, um an deren Wissen ranzukommen. Frag Siri, und die weiß die Antwort.

Und da ist was dran: Es kommt nicht mehr darauf an, was man weiß, sondern dass man weiß, wie und wo man die richtigen Informationen findet. Zeiten, in denen ein einzelner Mensch alles relevante Fachwissen einer Disziplin im Kopf speichern konnte, sind doch seit langem (wir reden hier von Jahrzehnten und Jahrhunderten) absolut vorbei. Und es wäre auch nicht wünschenswert, denn das ist statisches Wissen – doch die Wissenschaft und das, was wir von ihr lernen können, verändert sich laufen. Und nur allzu oft müssen wir feststellen, dass das, was wir zu wissen glaubten, nicht oder nicht mehr akkurat ist.

Okay, manche Tests tun ja nun so, als ob sie nicht das Wissen selbst abfragen, sondern dessen Anwendung – aber halt unter Zeitdruck. Doch wann erleben wir wirklich diesen Zeitdruck in der “echten Welt”? Und vor allem: Wann müssen wir, wenn wir unter diesem Zeitdruck eine Lösung brauchen, dieselbe ganz alleine finden? Oder, um da noch gleich nachzulegen: Ist es wünschenswert, Menschen dazu zu erziehen, dass sie glauben, die beste Antwort sei die, die sie ohne Zusammenarbeit mit anderen finden können? In der akademischen Welt, in der ich arbeite, kann ich aus unmittelbarer Nähe beobachten, dass diese Antwort in keinem Fall ein uneingeschränktes “Ja” sein kann.

Aber, höre ich manchmal, irgend einen Filter brauchen wir doch, irgendwie muss doch gemessen werden, was der Schüler/die Schülerin/der Student/die Studentin weiß, kann und in irgend einer Form “wert” ist. Stimmt, ich rede ja auch nicht unbedingt dem Abschaffen der Noten das Wort (obwohl mir ab morgen wieder rund 60 Seminararbeiten ins Haus flattern werten, die ich dann lesen, kommentieren und am Ende auch benoten muss – was ich etwa so gerne tue wie Steuerformulare ausfüllen). Aber sind die Fähigkeiten, die jemand mit einer beobachtbaren Kontinuität demonstriert, nicht maßgeblicher für den akademischen oder beruflichen Erfolg? Wenn jemand immer nur unter Druck Leistung zeigt, ist das wirklich effizient?

Letztlich komme ich nur auf einen wirklich plausiblen Grund, warum diese Tests weiterhin bestehen: Weil sie den Testenden das Leben leichter machen. Und das ist ja ein legitimer Grund; wenn ich in den kommenden Tagen und Nächten stundenlang (nach grober Schätzung aus praktischer Erfahrung etwa zwei Stunden pro Arbeit, alles inklusive, also runde 100 Studen bis Ende der kommenden Woche) über manchmal kryptisch, manchmal unvollständig, in fast jedem Fall aber meine volle Aufmerksamkeit fordernd geschriebenen Studenten-Papern sitze, werde ich mein Schicksal auch mehrfach beklagen und mir wünschen, dass es einen leichteren Weg geben müsse. Wie viel einfacher wäre es doch, wenn ich nur ein paar Haken am Rand machen und diese dann addieren müsste (oder besser noch: gleich einen Algorithmus die ganze Arbeit machen lasse), um auf die Note zu kommen?

Aber sollten wir wirklich unsere Zukunft davon abhängig machen, dass Menschen nach Nummern sortiert werden können?

flattr this!

Kommentare (22)

  1. #1 Stefan Wagner
    https://demystifikation.wordpress.com/2015/10/20/akkurates-messen/
    29. Oktober 2015

    Die Idee, dass man Wissen überall nachlesen kann, halte ich für Humbug.

    Man kann auf die Schnelle eine Wissenslücke stopfen, aber dazu muss das Wissen rundherum ziemlich solide sein.

    Man kann eine Verbindung von Fakten, die nicht auf der Hand liegt, nicht ergoogeln, solange man nicht weiß wonach man googelt.

    Auch wenn das ganze Wissen, dass man braucht, um ein Auto oder eine Atombombe zu bauen, bei Wikipedia nachlesen kann, kann ich beides nicht ohne jahrelange Ausbildung und Beschäftigung mit der Materie erreichen.

    Ein kommunikativer Mensch kann vielleicht in einem Team eine wertvolle Hilfe sein, aber 50 Leute, die gut miteinander können, können immer noch keine Brücke bauen, wenn nicht einige dabei sind, die was von Architektur, Statik, von Geologie, Materialwissenschaft und pipapo wissen. Zu wissen wo es steht hilft da wenig, wenn man die Grundlagen erst lernen muss, weil man nie etwas gelernt hat, sondern immer nur, wo es steht.

    Wenn ich Übung darin habe mathematische Formeln umzustellen und zu vereinfachen komme ich vielleicht hier und da weiter, aber um das durchzuführen muss ich die Praxis darin haben. Dass (12/8 x + 7/14 x) * irgendwas vereinfacht werden kann zu (3/2x + 1/2x) zu 2x, das muss ich sehen. Dass ich weiß, wo ich es nachlesen könnte, hilft mir gar nichts.

    Doch wann erleben wir wirklich diesen Zeitdruck in der “echten Welt”?

    Außerhalb des Elfenbeinturms universitärer Wissenschaft und bürokratischen Wasserköpfen, eigentlich immer. Und selbst da gibt es zeitliche Rahmen für Projekte und Zielvorgaben.

  2. #2 Wiener
    29. Oktober 2015

    Ich stimme Stefan Wagner da zu. Ich brauche ein solides Wissensfundament um mit meinen Recherchen zu starten. Sonst lande ich im Nirgendwo. Allerdings wird es meiner Erfahrung nach derzeit oft uebertrieben und in vielen Faechern werden unnoetige Details geprueft. Ich erinnere mich zum Beispiel mit Grauen daran, seinerzeit die Farben Dutzender Salze auswendig gelernt zu haben.

  3. #3 Philipp Ullrich
    Freiburg
    29. Oktober 2015

    Guten Tag Herr Schörnstein,

    ich befasse mich aktuell mit der Thematik in meiner Bachelor-Thesis und dazu ist Ihr Kommentar sehr interessant. Mein Thema lautet “Konzeption von online-basierten Wissensabfragen für modulare Qualifikation”.

    Die Operationalisierung von Wissen ist einer der schwierigsten und bedeutendsten Punkte, mit dem ich mich noch in meiner Arbeit befassen werde. Um den Wissenstand zu messen muss zwangsläufig ein Testverfahren durchgeführt werden, welches auf bestimmten Parametern beruht. Dies finde ich wichtig, um ein objektives und somit eine nachvollziehbare Beurteilung(Benotung) und auch Einschätzung des Wissenstandes zu erhalten.

    Ich glaube die Thematik lässt sich auch nochmal in gewisse Kategorien unterteilen, nämlich Hard und Soft Skills. Der beste Ingenieur (im Bezug auf seine Fachkenntnisse) wird niemals erfolgreich sein Know-How in ein Projekt einfließen lassen können, wenn er nicht die entsprechenden Soft Skills besitzt, um sich mit Kollegen auszutauschen und z.B. angemessen Kritik zu üben. Ich denke die Perfomance von einem Mitarbeiter hängt immer von einer Wechselbeziehung aus Hard und Soft Skills ab. Diese Wechselbeziehung ist allerdings sehr schwer zu ermitteln.

  4. #4 Jokep
    29. Oktober 2015

    Interessantes Thema! Allerdings vermisse ich in diesem Artikel zwei Dinge:

    1) Ein Vorschlag, wie man es besser machen könnte – oder eine Auflistung von Vorschlägen, die derzeit diskutiert werden.

    2) Wissenschaftliche, statistische Untersuchungen, ob “Klausuren” tatsächlich so schlecht sind.

    Ohne diese Punkte steht der Artikel argumentativ auf einer Stufe mit Homöopaten und Impfgegnern: Eine Ansammlung von Anekdoten und Verallgemeinerung von eigenen Erfahrungen.

    Grüße
    Jokep

  5. #5 Jürgen Schönstein
    29. Oktober 2015

    @Stefan Wagner @Wiener
    Das Missverständnis ist, dass ich nicht behauptet habe, man brauche kein (Fach-)Wissen – die Existenz dieses Wissens lässt sich aber sehr gut, meiner Erfahrung nach sogar viel besser durch angewendete Arbeiten, Projekte, Präsentationen/Referate etc. nachweisen. Ich wende micht hier nicht dagegen, Wissen zu fördern und zu fordern, sondern dagegen, dies in einem Format zu tun (Klausur), das kein Äquivalent im realen Leben hat. Vor allem die Vorgabe, NICHT mit anderen kooperieren zu dürfen, ist für diese realen Verhältnisse eher kontraproduktiv, Und ja, da bin ich subjektiv, aber wenn ich an meine eigene Studienzeit zurückdenke, dann erinnere ich mich am wenigsten an das, was in den Fächern gelehert wurde, die als einzige Leistungserhebung eine Klausur hatten – weil ich (und das ist sicher nicht untypisch für Studierende) NUR auf diese Klausur hin gebüffelt hatte. Passives Wissen, mehr nicht.

    @Jokep
    Dies ist ein Blog, in dem es so etwas wie “Meinung” und subjektive Betrachtungen als Denkanstöße geben darf. Ich schreibe hier über Beobachtungen im Lehrbetrieb und als Vater, basierend auf den eigenen Erfahrungen meiner Schul- und Studienzeit. Und ja, über 1) und 2) wird man vielleicht in den Kommentaren diskutieren (Vorschläge habe ich ja eigentlich schon im Text, aber auch noch einmal gerade eben in meiner Antwort an @Stefan Wagner und @Wiener gemacht). Was das mit Homöopathie und Impfgegnern zu tun hat, müsstest Du mir noch einmal erklären…

  6. #6 Bullet
    29. Oktober 2015

    @Jürgen:

    Und da ist was dran: Es kommt nicht mehr darauf an, was man weiß, sondern dass man weiß, wie und wo man die richtigen Informationen findet.

    Mein Chemielehrer, 1990 (vor Erfindung des Internets):
    “Man muß nicht alles wissen – man muß nur wissen, wo es steht.” Das ist SO derb deckungsgleich mit dem, was du hier geschrieben hast, daß ich mich frage, ob es tatsächlich nicht mehr darauf ankommt – oder ob es eigentlich nie wirklich drauf ankam. Jedenfalls seitdem es Bibliotheken gibt.

  7. #7 Hav0k
    29. Oktober 2015

    @Bullet: Nein, ich denke das Internet hat unsere Art der Wissensaneignung schon deutlich verändert. Ich selbst gehöre eher zu der Generation, die mit den Segnungen des WWW groß geworden ist, aber ich muss immer wieder feststellen, dass ältere Semester bestimmte Dinge — seien es Backrezepte oder die Funktionsweise des Otto-Motors — viel stärker verinnerlicht haben. Klar, das ist jetzt anekdotisch, aber trotzdem besteht ein drastischer Unterschied zwischen Bibliotheken und dem Internet, was den schnellen, unkomplizierten Zugang zu Informationen angeht.

    @Jürgen: Vielleicht sind Klausuren ja nicht per se anachronistisch, sondern nur die, die stupides Faktenwissen abfragen? Gute Klausuren prüfen entweder das Verständnis von Konzepten oder die Fähigkeit zur Abstraktion, d.h. die Anwendung des Gelernten auf einen anderen Sachverhalt. An solchen Klausuren kann ich nichts schlechtes finden. Auch nicht (oder gerade weil?), wenn sie unter Zeitdruck und ohne allein geschrieben werden müssen.

  8. #8 Jürgen Schönstein
    29. Oktober 2015

    @Hav0k
    Damit wir uns nicht missverstehen (ich hab’s im Prinzip ja schon erklärt, will aber ganz sicher gehen, dass dies nicht übersehen wird): Die Annahme, dass Menschen, die in Tests (!) schlecht abschneiden, nichts oder jedenfalls nicht genug wissen, ist aus meiner Praxiserfahrung heraus nicht gestützt. Das ist ganz wichtig, denn diese Annahme – dass durch Tests das Wissen korrekt erfasst wird – ist ja die Prämisse, mit der dieses Tests legitimiert werden. Aber nicht mal jene Lehrer meiner Tage, die Schülern schlechte Noten auf Kurzarbeiten und Klausuren servierten, schienen sicher zu sein, dass diesen Schülern jegliches Wissen abging – sie konnten es nur nicht dem Testformat anpassen.

    Verinnerlichte Dinge sind, wenn sie veraltet sind (was bei solch statisch erlerntem Wissen ja nicht ungewöhnlich ist) unter Umständen sogar riskant – Wissen entwickelt sich, und es entwickelt sich in aller Regel kollektiv und kooperativ.

    Und darum komme ich auf den zweiten Punkt: Welchen praktischen Sinn erfüllt dieses Format? Welche “reale Situation” im Beufsleben erzwingt singulär die Anwendung gelernten lexikalischen Wissens alleine (= in Klausur!) und unter extremem Zeitdruck (Minuten, effektiv)? Ich wüsste keine…

  9. #9 Böx
    https://boexbooks.wordpress.com/
    29. Oktober 2015

    Meiner Erfahrung nach schneiden Studierende, die sehr gute bis gute Noten in Klausuren erzielen, auch in Laborpraktika besser ab als Studierende, die in Klausuren schlechtere Noten hatten. Weil sie das Wissen, das sie in den Klausuren nachgewiesen haben, im Labor dann eben auch parat haben, wenn sie es benötigen.
    Und wenn ich mit Kollaborationspartnern diskutiere oder nach Vorträgen Fragen beantworten muss, dann muss ich mein Wissen einfach schnell parat haben. Unter Zeitdruck. Wenn ich bei jeder – mitunter hitzigen – Diskussion erst mal Siri fragen muss, dann wird mich ganz schnell keiner mehr ernst nehmen und nicht mehr mit mir quatschen.

  10. […] —– Ein paar inter­es­sante Gedan­ken­gänge zum Sinn oder Unsinn von Klau­su­ren. https://scienceblogs.de/geograffitico/2015/10/28/sind-klausuren-ein-anachronismus/ […]

  11. #11 Wizzy
    30. Oktober 2015

    @ #8
    “singulär die Anwendung gelernten lexikalischen Wissens alleine”
    Nun, bei vielen Klausuren an die ich mich erinnere, war meines Erachtens das Gegenteil der Fall. Man musste in der Klausur durchaus denken und nicht nur lexikalisch wiedergeben. So beobachtet in allen Fächern außer Geschichte / Erdkunde / Gemeinschaftskunde (/ vielleicht Biologie und Religion). Und diese sind 1. klassische Wissens- (bzw. Lernfächer) – und Wissen ist, wie hier von anderen bereits dargelegt, im Leben nicht unwichtig. Und 2. repräsentieren sie nicht die meisten Unterrichtsstunden.
    Jedenfalls tut eine Untermauerung der oben zitierten These Not, denn zumindest so zugespitzt glaube ich das nicht.

    Was das “alleine” betrifft, stimme ich zwar zu, allerdings würde die Messbarkeit der Leistungen der Individuen im Team deutlich aufwändiger sein bzw. ohne entsprechende Beobachtung zieht dann beispielsweise ein Fähiger x Unfähige mit.

  12. #12 Jürgen Schönstein
    30. Oktober 2015

    @Wizzy

    allerdings würde die Messbarkeit der Leistungen der Individuen im Team deutlich aufwändiger sein bzw. ohne entsprechende Beobachtung zieht dann beispielsweise ein Fähiger x Unfähige mit.

    Auch das lässt sich, wie ich aus praktischer Erfahrung weiß, relativ leicht feststellen…

  13. #13 CM
    30. Oktober 2015

    Gefallen mir Klausuren? Nein. Weder als Lernender noch als ehedem Lehrender. Und so bin ich froh, dass bis auf Weiteres dieser Kelch an mir vorübergehen wird. (Juchuu! Auf meine Veranstaltungen muß ich keine “Scheine” rausgeben!)

    Aber der Grund, dass Klausuren für Lehrende einfacher sind, wiegt schwer. Da muß man gar nicht ans “Häkchenmachnen” denken:
    – Gibt es ein Zeitlimit, so gibt es keine Nachzügler. (Jedenfalls keine, die extremlang Abgaben hinauszögern.)
    – Gibt es Aufgaben für Einzelne, können Einzelne verglichen werden. Gruppenaufgaben können halt nur Gruppen vergleichen. Auseinanderklamüsern wer was gemacht hat, würde Wiederholungen, Permutation von Gruppenzusammenstellungen und statistische Tests erfordern – auch nichts für alle Lehrenden 😉 – Und nein, “praktische Erfahrung” zum Feststellen von Fähigkeiten in Gruppen sind auch nur subjektive Bewertungen mit einem hohen Risiko für unfaire Einschätzungen. Davon sind wir alle nicht frei – leider.
    – Und ganz ehrlich: Die Konzeption von Klausuren kostet Zeit, ist aber rel. effizient. Die “Recyclingquote” oft gut.

    Dysfunktional sind Klausuren, weil Lernende in Töpfchen gesteckt werden, die nun mal nicht die ganze Realität abbilden? In der Tat, wer wollte diesem Befund wirklich auf ganzer Linie widersprechen? Ich sicher nicht. Und doch: Alternativen müssen sich auch daran messen lassen, was sie bringen und was sie “kosten” (Aufwand).

    Ich jedenfalls bin neugierig, welche praktikablen Alternativen ich kennenlernen werde – eben weil ich hoffe in den nächsten Jahren solche kennenzulernen, eben weil auch in unzufrieden mit der Ist-Situation bin. Allein, mir selber fehlt Zeit und – ehrlicherweise – Phantasie Alternativen auszuarbeiten. Und mir fehlt wohl auch in den Veranstaltungen Zeit für zeitaufwendige Prüfungsformen. Ich bin schon froh, wenn ich meine Lehre didaktisch gut hinbekomme.

    Gruß,
    Christian

  14. #14 Ulfi
    31. Oktober 2015

    Ein paar Anmerkungen meinerseits:

    Ich halte “Zeitbeschränkung” und “auswendig gelerntes Wissen” nicht für Argumente gegen Tests, weil man Tests so gestalten kann, dass weder zeit noch wissen im Kopf ein Problem darstellen. Gegen Zeitmangel kann man durch ein großzügiges Zeitpensum vorgehen und gegen Wissensmangel durch das Erlauben von Klausurhilfsmitteln. Ich kann mich an keine Klausur in meiner Zeit erinnern, wo ich nicht noch mehrfache zeit zum durchrechnen/durcharbeiten hatte. Anderen ging es anders, aber die waren auch objektiv schlechter. Andererseits kenne ich klausuren, wo 80% nach der hälfte der Zeit fertig waren und der Prof meinte: “Die Klausur ist so ausgelegt, dass niemand zeitmangel hat, aber wer es nicht in 2h schafft, schafft es auch nicht in 10”. Natürlich sind Tests nicht perfekt: jeder kann sich verrechnen, aber für die Bewertungskriterien ist der Prüfende verantwortlich und wenn es dem nur um “endergebnis richtig” geht, dann ist das kein Argument gegen einen Test, sondern gegen den Prüfenden.

    Also, was kann man mit einem Test heraufinden, wenn man zeit und wissen nicht zum limitierenden Faktor macht
    1. Die Fähigkeit der Studenten, Zusammenhänge zu erkennen
    2. Die Fähigkeit, das Wissen anzuwenden
    3. Die Festlegung einer Baseline was “mindestens” vorhanden sein muss

    insbesondere 3. ist wichtig, weil ein Kurs nicht im Luftleeren raum lebt sondern häufig andere Kurse auf ihm aufbauen. Und hier muss ich – auch zum schutz der studenten vor sich selbst – die herausfiltern, die nicht in der lage sind, diese baseline zu erreichen. Es ist besser, wenn ein Student den Kurs wiederholt, als dass er im Folgekurs daran scheitert, dass die Grundlagen nicht parat sind, wenn er sie braucht.

    Ich habe nichts gegen Projektarbeiten oder andere Testformen, aber es kommt immer darauf an, was die Zielsetzungen des Kurses sind. Ich möchte dabei aber auch anmerken, dass Projekte und Hausarbeiten nicht ideal sind: ein Programmierprojekt in der Informatik setzt vorraus, dass die Leute gut programmieren können, das benachteiligt eventuell theoretisch starke Studenten. Und wer kein gutes Englisch kann, wird eventuell bei Hausarbeiten, die eine intensive Literaturrecherche erfordern, benachteiligt. Es werden also auch ganz andere Kriterien in die Testauwertung fließen, die nichts mit dem vermittelten Wissen zu tun hat.

    Zuletzt habe ich das Gefühl, dass für viele Studenten “freie” Arbeiten wesentlich schwieriger sind, weil sie einiges an Projektmanagement erfordern – und in Gruppenarbeiten wirds schlimmer (Was macht man zum Beispiel mit Studenten, die die Aufgabe alleine durchziehen wollen, weil ihr letztes Gruppenprojekt vom rest der Gruppe gegen die Wand gefahren wurde und sie keinen bock auf sowas mehr haben?). Ich kenne nur wenige Prüfer, die wirklich unterstützend auftreten, wenn es in einer Gruppe zu problemen kommt, die meisten Studenten fühlen sich bei sowas eher alleine gelassen.

  15. #15 BreitSide
    Beim Deich
    31. Oktober 2015

    Hmmm, sehr gute Fragen – und sehr gute Antworten!

    Nur ein paar Einzelpunkte:
    – Zeitstress hat man im “richtigen Leben” eher mehr als im Studium. Projekte sind immer zeitgebunden.
    – Häufig (vor allem in kleineren Firmen) muss man eben doch alleine arbeiten. Irgendwann sind die Kolleginnen auch mal genervt, wenn man sie laufend fragt, wo was steht.
    – 80% des Wissens, das ich für meine tägliche Arbeit brauche, muss ich im Kopf haben.

    Was ja bei den “stupiden Abfragprüfungen” auch abgeprüft wird, ist ja die Fähigkeit, sich Dinge zu merken. Das könnte ich natürlich auch mit völlig sinnlosen Fakten machen, so habe ich eben einen Doppelnutzen.

    Schon vor 30 Jahren und mehr hatten wir die Diskussion, ob Fakten oder Zusammenhänge wichtiger seien. Die Meisten plädierten natürlich für Zusammenhänge, auch weil das irgendwie größer und umfassender klingt. Faktenlernen war schon damals als minderwertig eingeschätzt. Aber ohne Fakten keine Zusammenhänge.

    Hängt natürlich auch vom Gebiet ab. Die Meisten kennen ja schon die Anekdote, dass ein Ing und ein Med das Telefonbuch auswendig lernen sollen:
    – Ing: “Wozu?”
    – Med: “Bis wann?”

  16. #16 Spectral gap
    United Kingdom
    31. Oktober 2015

    Das Schlimmste ist, dass diese Form der Pruefung (typisch 2 Stunden, “closed book”) Rueckwirkung auf die Lehre hat.
    Erste Frage, bevor ich entscheide, ob ich ein Thema in der Vorlesung behandle: wie kann ich das in der Pruefung testen?
    Haeufigste Frage der Studenten zu jedem Thema: kommt das in der Pruefung ran?
    In kreativen Faechern (in meinem Fall Mathe) sollen die Studenten lernen, schwierige Probleme zu loesen. Der einzige Test ist, sie an schwierigen Problemen arbeiten zu lassen. Eine Klausur leistet das nicht.

  17. #17 BreitSide
    Beim Deich
    31. Oktober 2015

    Ja, eine erwachsenengerechte Lernerfolgskontrolle ist immer schwer. Welchen winzigen Teil des riesigen Stoffvolumens (Fakten und Zusammenhänge) müssen die Kandidaten wissen?

    Und dann darf es natürlich keine Frage sein, die in den letzten 5 Jahren vorkam, weil ja alle alle Fragen schon haben… 🙄

    Ich denke, das Ganze ist schlichtweg der Ökonomie geschuldet. 400 Studierende in einem Semester kann kein Prof wirklich gut prüfen. Ein “Lehrkörper” auf 20 oder vielleicht noch 50 Lernende kann sich vielleicht noch über das Semester ein wirkliches Bild über Pfiffigkeit, Fleiß, Intelligenz, Motivation, Lernehrgeiz usw. ein wirklich tiefergehendes Bild machen.

    Aber dann fangen die persönlichen Problematiken an: Wer ist Lehrers Liebling? Wer kommt mit ihm persönlich nicht zurecht? Usw…

  18. […] Hausaufgaben eigentlich noch die richtige Art und Weise die Leistung eines Schülers zu beurteilen? Jürgen geht der Frage nach und argumentiert dass man eigentlich die klassischen Tests nicht mehr […]

  19. #19 Earonn
    3. November 2015

    Vielleicht gibt es ja inzwischen auch mehr als eine Art “guten Wissens”?
    Ich könnte mir vorstellen, dass ein Team aus Leuten, die Fakten verinnerlicht haben (und sie deshalb womöglich auch besser in Zusammenhang bringen können) und anderen, die gut in Problemlösung sind, am besten vorankäme.

    Auf jeden Fall gibt es aber Menschen, die mit den gängigen Tests nicht klarkommen, und durchfallen bzw. als “schlechter” hingestellt (und in der Zukunft entsprechend behandelt) werden. Habt ihr schon mal Ausbildungskollegen mit der sog. Prüfungsangst gehabt? Das ist ein Jammertal, wenn Leute, die mit einem gemeinsam arbeiten, durch Prüfungen fallen, nur weil die in nur einem Format angeboten werden.

    Daher mein Vorschlag in die Runde: zwei Arten von Prüfungen, und genau wie sich Prüflinge die Themengebiete oder Fächer schon jetzt aussuchen können, können sie dann die für sie passendere Prüfungsvariante wählen.

  20. […] bei Geograffitico hat Jürgen ja vor kurzem gefragt, ob Klausuren noch zeitgemäß sind. Ich will hier sogar noch einen Schritt weitergehen und fragen, ob sie es je waren oder ob sie […]

  21. […] dies ist eine Fortsetzung der Überlegungen zum Thema Leistungsbewertung, die ich hier in einem eher subjektiven “Rant” angestoßen habe und die von Martin bei Hier wohnen Drachen dankenswerter Weise auf wesentlich stabilere Beine […]

  22. #22 Olaf aus HH
    Hamburg
    6. November 2015

    !991 habe ich in Hamburg das juristische Staatsexamen erfolgreich absolviert (Studienbeginn WS 1984).
    Vorab die einstufige Juristenausbildung (Modellversuch) mit soziologisch orientiertem Studium. Ca. 6 Jahre.
    Klausuren waren weniger der Schwerpunkt, dafür gab es reichlich “Hausarbeiten” (sog. A- und B-Scheine).
    Im Examen 5- und 8-Wochenarbeiten und dazu eine mündliche Prüfung von 09:00 bis 17:00 Uhr. Das Ergebnis war solide.
    Ein reines (Paukwissen-)Klausurenexamen hätte ich wohl nicht geschafft, war aber immerhin über 16 Jahre als Jurist tätig.Ohne Flops.
    Ich glaube, es gibt gründliche, eventuell etwas “langsamere”/ bedächtige Leute (so wie mich) und Schnellschützen (etwa = voreilige Ejakulation)… Wenn möchte der geneigte Leser wohl lieber, wenn er z. B. vor Gericht steht ?