“Klar doch, wegen der Kreiselstabilität”, hatte ich meinem Sohn erst vor drei Tagen erklärt. Und wegen des Nachlaufs (das ist die Differenz zwischen der Steuerachse und dem Bodenberührungspunkt des Rades) würden die Fachleute, spätestens seit dem von David Jones 1970 in Physics Today veröffentlichten Paper ergänzen (den Gleichgewichtssinn des Fahrers lassen wir her mal aus dem Spiel – ein angeschubstes Fahrrad bleibt ja auch ohne eine Person im Sattel erstaunlich lange stabil). Klingt beides plausibel – und beides ist, wenn auch nicht unbedingt falsch (beide Effekte spielen bestimmt bei unseren Fahrrädern eine Rolle), dann doch zumindest unvollständig: Ein Team von Experten um Arend L. Schwab von der Technischen Universität Delft hat ein Versuchs-Fahrrad konstruiert, das auch ohne Kreiselstabilität und ohne den Nachlauf nicht nur unbemannt geradeaus rollen kann, sondern sich auch – wie ein richtiges Fahrrad – selbst wieder in eine stabile Position einpendelt, wenn es beim Rollen aus dem Gleichgewicht gebracht wird:

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Leider finde ich keine Möglichkeit, die Videos einzubetten, aber hier erklärt Andy Ruina von der Cornell University, einer der Mitarbeiter Schwabs, wie das funktioniert. Details haben Schwab et al. in dem Paper

A bicycle can be self-stable without gyroscopic or caster effects

beschrieben. Die nachfolgende Abbildung, die ich aus dem Paper entliehen habe, das in Science erscheint, zeigt bereits, dass es vor allem auf die Massenverteilung ankommt:

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(Zur Vergrößerung aufs Bild klicken. Eine kurze Zusammenfassung, mit mehr Bildern und Videolinks, findet sich hier.)

Der Selbststabilisierungseffekt tritt im Prinzip dadurch auf, dass der Massenschwerpunkt des Steuerrades niedriger liegt als der des Hinterrades. Wenn das Fahrrad seitlich zu kippen beginnt, dann kippt die “niedrigere” Masse schneller (kann jeder mit dem Balancieren eines Bleistifts und eines Besenstiels selbt nachprüfen – der Stift kippt schneller), was wiederum durch die Rahmenkonstruktin, die beide Räder verbindet, dazu führt, dass sich das Vorderrad in die Kipprichtung dreht – eine automatische Ausgleichs-Lenkbewegung entsteht, die das Fahrrad in eine stabile Position zurückführt. Toll, nicht wahr? Ganz ohne Kreiseleffekt und ohne Nachlauf. In der Tat würde die Sache auch (darum heißt der Versuchsapparat “Two-mass Skate”, kurz: TMS) mit Schlittschuhkufen funktionieren.

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Kommentare (19)

  1. #1 rolak
    15. April 2011

    wasdattan, zu komplizierte Erklärung?

    Leider finde ich keine Möglichkeit, die Videos einzubetten, aber hier erklärt Andy Ruina von der Cornell University, einer der Mitarbeiter Schwabs, wie das funktioniert.

    Nach dem da der zweite aufheiternde Punkt des wg verstopfter Nase ach so frühen Morgens 🙂
    Ansonsten: Wo sonst außer in NL?

  2. #2 miesepeter3
    15. April 2011

    Also mein Fahrrad kippt öfter mal um, vor allem dann, wenn ich vom Stammtisch nach Hause will. Könnte so ein nichtumfallendes Fahrrad schon gebrauchen.

  3. #3 H.M.Voynich
    15. April 2011

    Ist die Kreiselstabilität bei der geringen Masse von Fahrrad-Rädern überhaupt relevant?
    Und wenn ja, dann hilft sie doch nur, Ablenkungen zu vermeiden, wogegen sie bei bereits eingetretenen Abweichungen vom Soll die Korrekturen nur erschwert, oder?

  4. #4 rolak
    15. April 2011

    Klar ist sie relevant, H.M.Voynich – sichtbar schon an anderen Auswirkungen. Nur eben anscheinend nicht notwendig.

    Hi mp3, für solche Zwecke gibt es doch schon bewährte Modelle, kein Drüberkraxeln, kein Wackeln…

  5. #5 H.M.Voynich
    15. April 2011

    @rolak:
    Coller Link, danke.
    Dann trifft meine zweite Frage: umso relevanter sie ist, umso mehr stört sie doch bei notwendig werdenden Korrekturen?

  6. #6 H.M.Voynich
    15. April 2011

    (Wie wichtig die Korrekturmöglichkeit ist, also die Lenkbarkeit der Vorderachse, kann man leicht schmerzlich erfahren, wenn man mit dem Rad in eine Straßenbahnschiene gerät 😉

  7. #7 rolak
    15. April 2011

    Mit Straßenbahnen und deren Schienen habe ich auch so meine Erfahrungen gemacht – über eine Kreuzung gestrampelt, die Schiene etwas zu spitzwinklig überquert, so daß mit Dagegenhalten das Reinrutschen des Reifens verhindert werden mußte. Es ertönt ein nicht allzu lautes *knack* und die (zugegebenermaßen mehr als leicht angerostete) Lenkstange bricht. An sich schon ein geiles Gefühl, so einen Griff in den Händen zu halten, der nirgendwo mehr so richtig befestigt ist, doch dann ertönte zusätzlich knapp hinter mir das vertraute Bimmeln…

    Zur Lenkbarkeit: Ohne nachrechnen zu wollen wage ich die Behauptung, daß das Sich-in-die-Kurve-legen (und erst bei recht hohen Umdrehungszahlen treten starke Kreiseleffekte auf) die deutlich größere Lenkbehinderung darstellen dürfte (wenn das Rad flach auf den Boden gepresst wird, wäre sie maximal ;-). Nicht umsonst haben die indoor-Radrennbahnen alle diese schicken Kurven, derart überhöht, daß sogar die geraden Teile des Ovals schräg sein müssen für den genehmen Übergang.

  8. #8 Statistiker
    15. April 2011

    @ rolak: Nettes Bild….. Gibt es das auch als Pedelec, dann fahr ich damit zum nächsten Fussballspiel…..

  9. #9 miesepeter3
    16. April 2011

    @rolak

    Technisch dem Zweck durchaus angepasst. Aber damit kann ich unmöglich h i n fahren.

  10. #10 Ketzu
    16. April 2011

    Das erinnert mich an die Wikipedia List of common misconceptions bezüglich der Kreiselstabilität 🙂 (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_common_misconceptions#Physics)

    Gyroscopic forces are not required for a rider to balance a bicycle.[180][181][182][183] Although gyroscopic forces are a factor, the stability of a bicycle is determined primarily by inertia,[183] steering geometry, and the rider’s ability to counteract tilting by steering.

  11. #11 BreitSide
    16. April 2011

    @rolak:

    Nicht umsonst haben die indoor-Radrennbahnen alle diese schicken Kurven, derart überhöht, daß sogar die geraden Teile des Ovals schräg sein müssen für den genehmen Übergang.

    Naja, das hat ja eher mit der Fliehkraft bzw der begrenzten Haftreibung und der möglichen Kurvengeschwindigkeit zu tun. Wie bei den überhöhten Kurven im Autorennsport oder auch der Eisenbahn. Aber das weißt Du ja sicher.

    Zur Kreisstabilität: man hatte wohl auch Versuche mit Fahrrädern gemacht, die konzentrisch in jedem Rad ein weiteres Rad angebracht hatten,um das Kreiselmoment durch umgekehrte Rotation aufzuheben. Die Räder waren umgefallen. Jetzt weiß ich, dass da mehr dahinter steckte. Vielleicht hätte man den Versuch genauer durchführen müssen.

    Mit einem Einrad/einer Münze müsste das noch viel besser funktionieren.

  12. #12 rolak
    16. April 2011

    Wem sagst Du das, BreitSide? Dir selber zur Erinnerung, nicht ohne Kontext zu zitieren?

    Sich-in-die-Kurve-legen…deutlich größere Lenkbehinderung … Nicht umsonst…

    Oder siehst Du Fliehkraft etc nur, wenns explizit dransteht?

  13. #13 BreitSide
    17. April 2011

    @rolak: scheints hatte ich gestern nicht meinen besten Lesetag 😉

    Oder Verstehtag…

    Aber so eine Fliehkraftdeklarationspflicht wäre schon was Nettes…:-)))

  14. #14 rolak
    18. April 2011

    Mußt Du aufpassen: Ist ansteckende Krankheit – hat mich auch schon dann&wann erwischt 😉

  15. #15 rolak
    19. April 2011

    Ist im DiscoBlog angekommen. Untermalt mit dem schönen & passenden Ausschnitt aus Tatis Schützenfest 🙂

  16. #16 BreitSide
    19. April 2011

    Hmm, interessant: ein gutes Rad “steuert in den Fall (bzw gegen ihn), aber man kann das auf verschiedenste Arten erreichen”…

    Tati rockt!

    Tati ist Kuuuult!!!

    Mon Oncle, Monsieur Hulot, das Schützenfest, ein Lieblingsfilm nach dem Anderen!

  17. #17 miesepeter3
    20. April 2011

    @BreitSide

    Am schönsten finde ich die Stelle, wo der radfahren Postbote im Fahren auf der runtergelassenen rückwärtigen Bordwand des LKWs seine Briefe abstempelt (Schützenfest).

  18. #18 BreitSide
    20. April 2011

    Rrrrapidité!!!:-)))

  19. #19 miesepeter3
    20. April 2011

    @BreitSide

    Genau 😀