Heute ist Wahlsonntag in Deutschland*. Also der Tag des massenhaft exerzierten Rationalitätsverlusts – so könnte man es, auf der Basis der einschlägigen Modelle der Politikwissenschaft, durchaus sehen. Und vielleicht (sehr wahrscheinlich sogar) wird das Wahlergebniss auf einen großen Anteil der Bevölkerung nicht wie eine Entscheidung der Vernunft wirken. Aber darum geht es hier nicht, und es soll auch keine Neuauflage der Diskussion das Problem des Rational-Choice-Modells als Erklärungsansatz des Wahlverhaltens sein, die ich vor weiniger Zeit mit meinem ScienceBlogger-Kollegen Ulrich Berger geführt habe(wer’s nachlesen will: hier und hier klicken).
Dass ich das Thema trotz der insgesamt sehr unergiebigen Diskussion trotzdem noch einmal aufgreife, liegt vor allem daran, dass in Ulrichs Beitrag die Feststellung getroffen wird, dass Nicht-Wählen die rationale Entscheidung sei (“… werde ich als rationaler wahlberechtigter Bürger den Gang zur Wahlurne also tunlichst unterlassen”), und weil ich mir durchaus vorstellen kann, dass sich ScienceBlogs-LeserInnen, denen ich sicher nicht ganz unberechtigt eine Neigung dazu unterstellen kann, sich so rational (= vernünftig) wie möglich zu verhalten, dadurch vom Wahlgang abhalten lassen. Aber ich will nicht einfach noch einmal die alte Diskussion wiederholen, sondenr mal das Augenmerk auf ein zentrales Element dieser Rational-Choice-Theorie richten: das Konzept des “pivotal voters”, zu Deutsch, die Annahme, dass der Nutzen einer Wahl für den Wähler/die Wählerin davon abhängt, ob seine/ihre Stimme die Wahl entscheidend beeinflusst hat.
Das klingt erst mal plausibel: Wozu wählen gehen, wenn man am Ausgang der Wahl sowieso nichts ändern kann? Dass andererseits der Anreiz umso höher sein muss, je mehr Gewicht die eigene Stimme hat, scheint auch erst mal trivial. Das Problem, das das Rational-Choice hier verortet, liegt darin, dass die Wahrscheinlichkeit bei einer Wahl mit Millionen von Wahlberechtigten, dass ausgerechnet eine einzige Stimme das Wahlergebnis entscheided, sich nur infinitesimal von der Null unterscheidet – was wiederum jeden theoretischen Nutzen (der ja mit diesem Wahrscheinlichkeitsfaktor zu multiplizieren ist) ebenfalls gegen Null gehen lässt. So weit, so gut.
Doch allein schon die Tatsache, dass Millionen Menschen heute zur Wahl gehen werden, lässt schon mal Zweifel daran aufkommen, dass diese Überlegung – und damit das Modell – zutreffend ist. Aber der größte Irrtum liegt meiner Ansicht nach schon in der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit der “pivotal vote” gegen Null ginge. Denn es wird vom System her schon garantiert, dass eine einzelne Stimme die Wahl nicht entscheiden kann; das Hare-Niemeyer-Auszählverfahren, mit dem zum Beispiel die Sitze im Bundestag vergeben werden, enthält – wie auch das D’Hont-Verfahren, das bis 1983 in Deutschland verwendet wurde – bewusst einen Rundungs”fehler”, der immer größer als eine Stimme ist.
Eine “pivotal vote” ist also gar nicht möglich; entsprechende Erwartungen werden, soweit ich das als Wahlbürger nachvollziehen kann, auch nirgendwo geweckt. Die Studie Optimists and skeptics: Why do people believe in the value of their single vote?, die 2011 in Electoral Studies veröffentlicht wurde, findet zwar einen Zusammenhang zwischen der Wahl-Bereitschaft und der Erwartung, eine entscheidende Stimme abgeben zu können – aber diese Erwartung von Pivotalität ist nicht konstant, sondern variiert (was nicht wirklich überraschend ist), mit der Gewissheit des zu erwartenden Wahlergebnisses. Hinzu kommt, dass sie auf einem einzigen Datensatz beruht, der 2008 in Kanada erhoben wurde (als Internet-Umfrage, was methodisch immer schon zweifelhaft ist) und in dem die WählerInnen folgende Fragen zu beantworten hatten:
1. My single vote will NOT decide who wins the election in my local riding;
2. My vote COULD decide who wins the election in my local riding.
Sie sollten also nur einschätzen, ob ihre Stimme auf Wahlkreisebene eine entscheidende Rolle haben könnte – das ist nicht das gleiche, als wenn sie dies zur Bedingung ihres Wahlganges machen. Ebenso viele WählerInnen (jeweils 44,5 Prozent) antworteten übrigens mit 1., wie mit 2.; der Rest hatte dazu keine Meinung. Auch das stützt nicht gerade das Modell, dass die “pivotal vote” auch eine notwendige Bedingung für den Wahlgang ist. (Ganz abgesehen davon, dass ich die Gleichsetzung von Antwort 2 mit “hat die Hoffnung aufgegeben”, wie es in dem Paper durchgängig geschieht, sehr manipulativ finde.)
Zum Zweiten sollte zwei Prinzipien des Votums auseinander halten; zum Zweck dieser Ausführungen werde ich diese beiden prinzipiellen Formen des Votums mit dem Begriffen Wahl und Abstimmung bezeichnen. (Und ja, mir ist klar, dass jede/r diese Begriffe ein wenig anders verstehen kann und manche vielleicht nie einen Unterschied zwischen beiden gemacht haben – aber zum Zweck der vorliegenden Argumentation erlaube ich mir mal, sie als nicht-synonym zu behandeln.) Am besten lässt sich der Unterschied furch Beispiele beschreiben: Am Ende der Abstimmung steht ein Beschluss – doch die Wahl führt zu einem Mandat. Wenn es darum geht, ob eine Straße gebaut werden soll, oder ob eine Firma eine Dividende ausschütten wird, oder ob Steuern erhöht werden sollen: das sind Abstimmungen. Doch bei Wahlen wird darüber entschieden, wer zu den Abstimmungen (die sind nunmal die Währung der parlamentarischen Entscheidung) entsandt wird. Wahlen sind, wenn man so will, also Meta-Abstimmungen.
Das ist nicht ganz unbedeutend, denn im Gegensatz zur Abstimmung, deren Wirksamkeit nur davon abhängt, dass eine Mehrheit dafür war, nicht aber, wie groß die Mehrheit war (sofern die formalen Vorschriften dafür, welche Mehrheit erforderlich ist – einfach, absolut, qualifiziert oder sogar einstimmig – eingehalten wurden), spielt es bei Wahlen hingegen schon eine Rolle, wie groß oder wie knapp die Siegerpartei gewählt wurde. So gesehen kann auch eine Stimme für eine unterlegene Partei das künftige Geschehen in der Politik mitgestalten, denn ohne Fraktionszwang sind Abstimmungen in den Parlamenten nicht durch die Wahlergebnisse determiniert, und der Eigennutz der Abgeordneten (sie wollen wieder gewählt werden) deckt sich nicht automatisch mit dem Willen der Partei.
Hinzu kommt, dass sich die Vorhersagekraft dieser (angeblich) erwarteten “Pivotalität” empirisch nicht bestätigen ließ: In ihrem Paper Beliefs and Voting Decisions: A Test of the Pivotal Voter Model, das im 2008 im American Journal of Political Science erschienen ist und für das sie diesen Effekt in einem kontrollierten Versuch getestet hatten, stellten John Duffy und Margit Tavits fest, dass
the fit between their beliefs about decisiveness and turnout was considerably worse than the theory predicted: many subjects whose perceived pivotality probability was higher than the cost of voting did not vote while many of those who stated a probability considerably lower than the cost of voting still decided to participate.
Mit anderen Worten: Es war zumindest unter den Bedingungen des Versuchs offenbar nicht die Erwartung, die entscheidende Stimme abgeben zu können, die WählerInnen an die Urnen trieb.
Und nur weil das Modell der rationalen Entscheidung das tatsächliche Wahlverhalten nicht erklären kann, heißt das noch lange nicht, dass Wählen gehen irrational ist – denn vielleicht sagt auch nur, dass das Modell nichts taugt.
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