Das Thema kocht hier am Massachusetts Institute of Technology schon seit Wochen, aber ebenso lang kämpfe ich mit mir, darüber zu schreiben: Das MIT hatte am 8. Dezember verkündet, dass alle Physik-Vorlesungen von Walter Lewin, die im Rahmen der MIT OpenCourseWare als Teil von edX verfügbar waren, auf unbestimmte Zeit vom Netz genommen werden. Begründet wurde der drastische Schritt damit, dass sich eine Teilnehmerin des Online-Kursprogramms über sexuell anzügliche oder belästigende Online-Kommentare des emeritierten Professors beschwert hatte. Ich gestehe, dass ich erst mal ganz voreingenommen schockiert war: Lewins Vorlesungen waren legendär, ich hatte sie selbst hier mal in meinem Blog verlinkt – und diese Lektionen sollten nun vom Netz verschwinden? Wegen unpassender Kommentare?
Doch Voreingenommenheit, so erklärbar sie auch ist, ist kein Argument. Selbst wenn sich Lewin “nur” online – es gab zu keinem Zeitpunkt physische Kontakte zwischen Lewin und der edX-Studentin – unpassend geäußert hatte: Wie das MIT in seiner Begründung schrieb, ist dies dennoch eine untragbare Belastung für das Vertrauen, das StudentInnen in ihre Lehrer haben sollten, egal ob die Interaktion physisch oder virtuell ist. Andererseits schien es mir auch leicht zu fallen, Verständnis für den Professor zu zeigen: Wer so extrovertiert ist, sich so von seiner Arbeit hinreißen lässt, vergaloppiert sich vielleicht manchmal und sagt/schreibt etwas, was dann missverständlich rüberkommt.
Doch am nächsten Tag schrieb die MIT-Studentenzeitung The Tech, dass nicht nur Lewins Videos abgesetzt wurden, sondern dass ihm auch der Titel des Professor emeritus aberkannt wurde. Der Provost des MIT, Marty Schmidt, bezeichnete den Schritt gegenüber der Fakultät “…angesichts der langen Karriere von Dr. Lewin auf unserem Campus, und seiner Leistungen als Erzieher” als “schmerzhaft”. dennoch habe er diesen Schritt gehen müssen, nachdem er die Ergebnisse der Untersuchung dieses Falles sorgfältig geprüft und Rücksprache mit den KollegInnen der Physikalischen Fakultät gehalten habe: “Ich glaube, dass es die Belästigung gegeben hat, dass unsere Reaktion darauf angemessen ist und dass es nötig ist, diese Sache öffentlich zu erklären.”
Doch so ganz öffentlich war’s dann doch nicht: Was genau Lewin nun geschrieben hatte, stand in der Erklärung nicht drin. Und auch nach der Lektüre des Beitrags im aktuellen Tech bin ich nur bedingt schlauer: Offenbar hatte Lewin auch mit seinen Studentinnen und Studenten getweetet – was bei Online-Kursen vermutlich nicht ungewöhnlich ist. Doch angeblich sollen seine Tweets an junge Studentinnen immer wieder auch sexuelle Konnotationen enthalten haben. Als eine Studentin, mit der er am 11. Juni per Twitter einen kurzen Kontakt gehabt hatte, fünf Tage später einem Freund in einem völlig anderen (und nicht mit Lewin verknüpften) Tweet das Wort “Fuck” benutzte, habe sich der Professor mit dem Kommentar eingemischt: “Das lässt sich arrangieren, wenn Sie das möchten.” Gegenüber dem Tech begründete Lewin diese Bemerkung mit seinem “exzentrischen/ungewöhnlichen Sinn für Humor, der leicht missverstanden werden kann (nicht jeder weiß ihn zu schätzen”. Und er schreibt weiter: “Wenn jemand ‘fuck’ schreibt, was sehr häufig vorkommt, dann mach ich damit öfter mal einen Scherz.”
Doch offenbar habe er dann noch am gleichen Tag diesen “Scherz” zu weit getrieben und die Studentin (ob es sich dabei um die gleiche Person handelt, deren Beschwerde die Aktion gegen Lewin ins Rollen gebracht hat, wird nicht erläutert) mit rüden Worten zu sexuellen Handlungen eingeladen und nachgehakt,ob sie dazu auch nicht zu feige sei. Diese Nachricht, so behauptet Lewin, habe er nie geschrieben, da er das darin verwendete Vokabular gar nicht kenne – es müsse jemand seinen Account gehackt haben.
So richtig schlau werde ich aus dem Tech-Artikel dann aber auch wieder nicht, da er – entweder aus typisch amerikanischer Prüderie, oder aber mangels genauer Detailinformationen, das ist nicht ganz klar – nur allzu oft bei Andeutungen des Inhalts der besagten Tweets bleibt. Doch wie so oft in solchen Fällen kommt es schon auf Details an – vor allem, wenn man bedenkt, dass der aus den Niederlanden stammende Lewin (in den Videos ist es auch hörbar) Englisch als Fremdsprache spricht.
Hat das MIT nun richtig reagiert? Schwer zu sagen, aber ich bin überzeugt, dass niemand diese Entscheidung leichtfertig getroffen hat. Mehr Transparenz wäre mir zwar lieber; es ist sehr leicht möglich, die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Studentinnen zu schützen und zu wahren und doch alle Kommunikation im Wortlaut offenzulegen. Nicht nur, damit die Entscheidung nachvollziehbar wird, sondern vor allem auch, damit klarer wird, wo die Grenzen zu ziehen sind. Und damit der nächste Online-Stalker nicht sagen kann, er hätte ja gar nicht gewusst, dass sein Verhalten nicht akzeptabel ist.
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